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Schneeschmöker

„Weiße Pracht“, „Weißer Winterzauber“, „Schneeweißchen“… und schließlich „weiße Weihnachten“:  Die visuelle Wahrnehmung  des Schnees ist in unserer Sprache gemeinhin mit „weiß“ belegt. Abweichungen werden in Literatur und Kunst bewusst gesetzt, wenn z. B. in Adalbert Stifters „Bergkrystall“ dem Schnee eine bedrohliche, farblich wechselnde Qualität verleiht oder wie George Simenons Krimi „Der Schnee war schmutzig“ verrät, dass es hier um kriminelles Milieu und den Bruch mit der bürgerlichen Ordnung geht. Zudem kann das an sich passive Element ein Leuchten und Glitzern in allen Farbnuancen wie in Orhan Pamuks Roman „Schnee“ aktivieren.

Eine neue Dimension der Wahrnehmung erschlossen die impressionistischen Maler durch eine kräftige Polychromie, die dem Naturphänomen eine subjektive Deutung aufzwingen. Die Farben des Schnees werden zu Bedeutungsträgern von Stimmungen, kulturellen Codierungen und ästhetischen Entwürfen. Das Niederschlagsphänomen lässt auch noch Anfang des 20. Jahrhunderts die Grenze zwischen vermeintlich nüchterner Disziplin und modernem Lebensgefühl verschwimmen, wenn der Schweizer Physiker Paul Gruner 1905 eine detaillierte Untersuchung über die Chromatizität des Alpenglühens vorlegt.

Am Übungshügel

Carl Reiser: Am Übungshügel. 1922. In: Jugend 1922 (Nr.24) S.939. Bestand der Universitätsbibliothek Regensburg.


So unterschiedlich die sinnliche Rezeption des Schnees in Literatur und Kunst ausfällt, so lassen sich die Konnotationen, die das Verhältnis des Menschen zu seiner Umwelt durch das Medium Schnee beschreiben, nur ansatzweise durch eine Fülle an Deutungsmöglichkeiten fassen: Ruhe, Friede, Unschuld, makellose Schönheit, Jungfräulichkeit, Unversehrtheit, Weiblichkeit, Eiseskälte des Todes, Daseinsmetapher, menschliche Ohnmacht, das Erhabene, Einsamkeit, Unerreichbarkeit, Reinkarnation in Form des sich Auflösens (Schmelzens) und Wiedergeborenwerdens in anderer Gestalt, egalisierende Kraft, die Auflösung des Selbst in einer Gleichförmigkeit, Leichentuch der Natur, Entfremdung der Realität, faszinierendes Glitzern einer Zauberwelt, Einswerden mit der Umwelt, Gegenentwurf zu der industriellen Planbarkeit und Ordnung, Aufhebung der menschlichen Machbarkeit, Chiffre einer stadt- und gesellschaftsfernen Sphäre und schließlich als zu überwindendes Medium im Sinne einer grenzüberschreitenden Behauptung. Es gäbe noch viel mehr zu den Bedeutungsebenen des Schnees in der Literatur anführen, die ähnlich den Schneekristallen in Nuancen und morphologischer Vielfalt unbegrenzte Möglichkeiten eröffnen.

Fräulein Holle

A. Wölfle: Fräulein Holle. In: Jugend 1906 (Nr.52). S.1130. Bestand der Universiätsbibliothek Regensburg.


So muss der Literatur- wie der Naturwissenschaftler an einer abschließenden Beschreibung dieses Niederschlagphänomens scheitern. Daher wollen wir Ihnen die farbigen Seiten des Schnees Ihrer eigenen Vorstellungskraft und Interpretation in Form einer kleinen Schmökerliste für die Feiertage anheimstellen ...
Wir wünschen Ihnen ein nivales Lesevergnügen!

  • Mary Shelley: Frankenstein or the modern Prometheus. (1818)
  • Heinrich Heine: Ein Wintermärchen. (1844)
  • Adalbert Stifter: Der heilige Abend (1845), später überarb. unter dem Namen: Bergkrystall. (1853)
  • Hans Christian Andersen: Die Schneekönigin. (Gesammelte Werke Leipzig 1847)
  • Fridtjof Nansen: Auf Schneeschuhen durch Grönland. (1891 in deutscher Übersetzung)
  • Jack London: Der Ruf der Wildnis. (1903)
  • Sibylle von Olfers: Was Marilenchen erlebte! (1905)
  • Thomas Mann: Zauberberg. (1924)
  • Erich Kästner: Drei Männer im Schnee. (1934)
  • Ernest Hemingway: Schnee auf dem Kilimandscharo. (1936)
  • C. S. Lewis: Der König von Narnia oder Der Löwe, die Hexe und der Wandschrank (1950)
  • Boris Leonidowitsch Pasternak: Doktor Schiwago. (1958)
  • Thomas Bernhard: Frost. (1963)
  • Stephen King: Shining. (1977)
  • Raymond Briggs: Der Schneemann. (1978)
  • Peter Høeg: Fräulein Smillas Gespür für Schnee (1992)
  • David Guterson: Schnee, der auf Zedern fällt (1994)
  • Jacqueline Briggs Martin; Mary Azarian (Ill.): Snowflake-Bentley (1998)
  • Orhan Pamuk: Schnee (2002)
  • Durs Grünbein: Vom Schnee: Descartes in Deutschland (2003)
  • Sebastian Meschenmoser: Herr Eichhorn und der erste Schnee. (2007)
  • Jo Nesbø: Schneemann. (2007)
  • Charlie English: Schnee. (2008)
  • Benjamin Lebert: Im Winter dein Herz. (2012)
  • Chuck Dixon/Jorge Zaffino: Winterwelt (2015)
  • Dora Heldt: Schnee ist auch nur hübschgemachtes Wasser: Wintergeschichten. (2017)

Literatur:

  • Paul Gruner: Dämmerungserscheinungen und Alpenglühen, beobachtet in den Jahren 1904 bis 1913 (neun Arbeiten). Mitteilungen der Naturforschenden Gesellschaft Bern, z. B. 1905, 1-2 und 1906, S. 47-62; 138-159. https://www.e-periodica.ch/digbib/view?pid=mnb-001:1905:-#53 https://www.e-periodica.ch/digbib/view?pid=mnb-001:1906:-#194
  • Stephan Kunz: Die Schwerkraft der Berge. 1774 - 1997 ; [anläßlich der Ausstellungen im Aargauer Kunsthaus Aarau und der Kunsthalle Krems ; Aargauer Kunsthaus Aarau, 15. Juni bis 24. August 1997; Kunst-Halle Krems, 7. September bis 23. November 1997]. Basel [u.a.] 1997.
  • Ulrike Längle: Vom Mordinstrument zur existentiellen Chiffre. Schnee in der Vorarlberger Literatur von Felder bis Helfer. In: Tobias G. Natter: Schnee. Rohstoff der Kunst. Ostfildern 2009. Katalog der gleichnamigen Ausstellung im Vorarlberger Landesmuseum, Bregenz, und Huber-Hus, Lech am Arlberg. 20. Juni-4. Oktober 2009. S. 90-99.
  • Barbara Stark: „Und ewig verweigt Eis umringt das kühle Tal…“ Schneegipfel und Gletschermassen in der Kunst zwischen 1770-1860. In: Tobias G. Natter: Schnee. Rohstoff der Kunst. Ostfildern 2009. Katalog der gleichnamigen Ausstellung im Vorarlberger Landesmuseum, Bregenz, und Huber-Hus, Lech am Arlberg. 20. Juni-4. Oktober 2009. S. 102-125.
  • Gerhard Strohmeier: Schnee – Gegenstand, Bilder und Mythen. In: Tobias G. Natter: Schnee. Rohstoff der Kunst. Ostfildern 2009. Katalog der gleichnamigen Ausstellung im Vorarlberger Landesmuseum, Bregenz, und Huber-Hus, Lech am Arlberg. 20. Juni-4. Oktober 2009. S. 14-29.
  • Beat Stutzer: Todesmetapher, Polychromie und Arabeske. Schnee um 1900. In: Tobias G. Natter: Schnee. Rohstoff der Kunst. Ostfildern 2009. Katalog der gleichnamigen Ausstellung im Vorarlberger Landesmuseum, Bregenz, und Huber-Hus, Lech am Arlberg. 20. Juni-4. Oktober 2009. S. 166-181.
  • Tilman Treusch: Schnee und Sonne in den Alpen. Der verschneite Berg in der Malerei vom Impressionismus zur neuen Sachlichkeit. S. 148-165.
  • Manfred Tschaikner: „Schneeflucht“ – Zur Bedeutung des Schnees im spätmittelalterlichen und frühneuzeitlichen Vorarlberg. In: Tobias G. Natter: Schnee. Rohstoff der Kunst. Ostfildern 2009. Katalog der gleichnamigen Ausstellung im Vorarlberger Landesmuseum, Bregenz, und Huber-Hus, Lech am Arlberg. 20. Juni-4. Oktober 2009. S. 44-53.
  • Bernhard Tschofen: Schnee-Kulturen. Vorüberlegungen zu einer Anthropologie des Schnees in populären Bilderwelten. In: Tobias G. Natter: Schnee. Rohstoff der Kunst. Ostfildern 2009. Katalog der gleichnamigen Ausstellung im Vorarlberger Landesmuseum, Bregenz, und Huber-Hus, Lech am Arlberg. 20. Juni-4. Oktober 2009. S. 30-43.

Bildnachweis:

  • Carl Reiser: Am Übungshügel. 1922. In: Jugend 1922 (Nr.24) S.939. Bestand der Universitätsbibliothek Regensburg.
  • A. Wölfle: Fräulein Holle. In: Jugend 1906 (Nr.52). S.1130. Bestand der Universitätsbibliothek Regensburg.

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Universitätsbibliothek Regensburg

Dendritische Formen von Schneekristallen

Eine Virtuelle Ausstellung

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