Postkolonial, Regensburg, Bayern
Early-Career-Tagung am Zentrum Erinnerungskultur der Universität Regensburg zu „Postkolonialen Perspektiven auf Erinnerungskultur“
2. August 2024
Der „Kolonialwarenhandlung“-Schriftzug an der Hausfassade, der Schokoladen-Botschafter in putzigen Pluderhosen: Oft nostalgisch interpretiert sind sie Schatten kolonialer Vergangenheit, die bis heute als Bilder oder Begriffe im Alltag herumspuken und historische und gegenwärtige Präsenz post-/kolonialer Realitäten sichtbar machen. Am Zentrum Erinnerungskultur (ZE) der Universität Regensburg (UR) setzten sich Early-Career-Forschende von 24. bis 27. Juli 2024 mit der allenfalls vermeintlich banalen Alltäglichkeit kolonialistischer Weltbilder auseinander und diskutierten, wie sich diese reflektier- und verhandelbar machen lassen. Denn Geschichte und Gegenwart sind verschränkt, sie lassen sich nicht unabhängig voneinander lesen.
Early-Career-Tagung am Zentrum Erinnerungskultur der Universität Regensburg zu „Postkolonialen Perspektiven auf Erinnerungskultur“. Foto: Anna-Elena Schüler / Universität Regensburg
Die Tagung begann am 24. Juli mit einem Abendvortrag von Dr. Ali Aberkane, Germanist der Universität Algier 2, der eine postkoloniale Lesart des Romans „Topographie idéale pour une agression caracterisée“ des algerischen Schriftstellers Rachid Boudjedra in der Stadtbücherei Regensburg zur Diskussion stellte; sein Vortrag war zugleich Teil der ZE- Veranstaltungsreihe „Debatten & Positionen zur Erinnerungskultur“. Zwei Tagungssektionen setzten sich am Tag darauf mit literarischen Narrativen postkolonialer Heimatlosigkeit und Migration sowie dem Kolonialismus „vor Ort“ auseinander.
Dr. Philipp Bernhard und Dr. Regina Schuhbauer vom ZE der UR hatten die Tagung „Postkoloniale Perspektiven auf Erinnerungskultur“ initiiert. Studierende, Doktorand*innen, Postdocs und Professor*innen untersuchten zunächst Begrifflichkeiten und methodische Zugänge. Sie brachten verschiedene fachliche Perspektiven ein: Die Teilnehmenden waren interdisziplinäre Forschende aus verschiedenen Städten und Ländern, aus (Landes-)Geschichte, Literaturwissenschaften und Area Studies, aus Citizen-Science-Projekten und Geschichtswerkstätten.
Zu Gast bei der Tagung des Zentrums Erinnerungskultur der UR: Dr. Ali Aberkane sprach in der Stadtbücherei Regensburg. Foto: Anna-Elena Schüler / Universität Regensburg
Geschichtsvermittlung postkolonial
Das koloniale Erbe „vor Ort“ in Regensburg und Bayern analysierten am zweiten Konferenztag der Globalhistoriker Dr. Michael Rösser von der Universität Bamberg und Dr. Philipp Bernhard, wissenschaftlicher Mitarbeiter am ZE und Gymnasiallehrer für Geschichte, Englisch und Ethik. Bernhard, der zu Beginn postkoloniale Initiativen aus Augsburg, Bayreuth und München vorstellte, hat selbst maßgeblich an der Initiative „Augsburg Postkolonial. Decolonize Yourself!“ mitgewirkt und sensibilisierte dort bei Stadtrundgängen u. a. dafür, dass Fugger und Welser als global agierende Handelshäuser und die Welser mit der Kolonisierung Venezuelas 1528 auch den Beginn deutscher Kolonialgeschichte schrieben. Augsburg war wie London, Paris oder Venedig im 16. Jahrhundert Metropole und Umschlagplatz zwischen Europa, Afrika und der „Neuen Welt“. Wer im Zeitalter der beginnenden Globalisierung Handel trieb, profitierte – direkt oder indirekt – von Sklaverei und Ausbeutung.
Wie möchte, wie muss man mit dieser kolonialen Vergangenheit umgehen? Was tun mit entsprechenden Straßennamen, mit Denkmälern, mit Plaketten, die als Erinnerungsorte das kollektive Gedächtnis prägen? Muss man ein „Kolumbusjahr“ unreflektiert feiern? Mit dem „Eroberer“ begann die spanische Kolonialzeit auf dem amerikanischen Kontinent – für die indigene Bevölkerung der Beginn von Mord und Unterdrückung. Es brauche einen Perspektivwechsel und die Etablierung eines transkulturellen Dialogs, darüber waren sich die Konferenzteilnehmer*innen einig.
Konsens bestand auch dahingehend, dass die eurozentristischen Narrative in Kultur und Gesellschaft zunehmend aufzubrechen seien. Aus Sicht der Referenten braucht es nicht zuletzt Impulse für den Schulunterricht. Bernhard analysiert dies u. a. in seiner Monografie „Geschichtsdidaktik postkolonial. Eine geschichtsdidaktische Vermessung postkolonialer Theorie“ auf über 600 Seiten in beeindruckender Weise.
Bei der ZE-Early-Career-Tagung zu Postkolonialer Erinnerungskultur. Foto: Anna-Elena Schüler / Universität Regensburg
„Glokalisierung“
(Wiederkehrende) Debatten um belastete Namen, Begriffe, Symbole, um „koloniale Kontinuitäten“ kennt auch Regensburg – die „Drei-Mohren-Straße“ gehört zu den prominenteren Beispielen. Michael Rösser, selbst Regensburger, führte seine Kolleg*innen im Tagungskontext durch die Stadt und machte auf ihre postkolonialen Spuren aufmerksam. Deutlich wurde: Städte, Regionen, Länder – sie wirken in Bezügen mit anderen Orten bzw. Räumen, sie sind Produkt sozialer Beziehungen, kultureller Bedeutung und emotionaler Identifikation.
Die Referenten verwiesen u. a. auf Hamburg und München, wo zwischenzeitlich aus Universitäten und Zivilgesellschaft heraus Initiativen entstanden sind, die sich mit Räumen und Kolonialgeschichte beschäftigen. In vielen kleineren Städten stehen solche Auseinandersetzungen noch immer am Anfang – obwohl das deutsche Kolonialreich, flächenmäßig das drittgrößte nach dem britischen und französischen, auch in die Provinz reichte. Verantwortung für kolonialhistorische Themen, das machten Rössers Ausführungen deutlich, delegierte man auf Landesebene gerne nach oben, in den „nationalen Kontext“. Doch die Realität war auch lokal.
Bei der ZE-Early-Career-Tagung „Postkoloniale Erinnerungskultur“. Foto: Tanja Wagensohn / Universität Regensburg
Decolonize yourself!
So gab es eine „Koloniale Sonderausstellung“ in der Großen Oberpfälzer Kreisausstellung 1910; im dazugehörigen Programmheft warb ein Regensburger Unternehmer für die von ihm vertriebenen „Trikot-Unterkleider aus deutscher Colonial-Baumwolle“ – entstanden in Zwangsarbeit. Die „Sonderausstellung“ sollte den Auftakt für die Etablierung eines Kolonialmuseums in Regensburg bilden, berichtete Rösser. Er erinnerte daran, dass es um 1900 ein großes Bestreben war, große Räume zu erschließen, über Eisenbahn, Schifffahrt und Telegrafie. Die neue Infrastruktur schuf weitere koloniale Imagination. Der geopolitische Blick fiel in Regensburg dabei aufs östliche Europa.
Räume postkolonialer Erinnerung sind allgegenwärtig und losgelöst von Grenzen und Geographie, verknüpft mit Austausch und Migration. Sie sind in weltumspannende Verflechtungen eingebunden, transnational und transkontinental. Lokale Bezüge sind prägend. „Vor Ort“ spielt in verschiedener Hinsicht eine Rolle.
So seien beispielsweise Straßen Erinnerungsorte, ihre Benennungen, etwa nach Personen, spiegelten stets die aktuellen Verhältnisse, Weltanschauung und Kultur bis hin zu den Herrschaftsverhältnissen der entsprechenden Zeit wider. Wer vor 50 oder 100 Jahren ehrwürdig war, muss es nicht zwangsläufig heute auch sein. In Bernhards Workshop schlüpften die Teilnehmenden im Rahmen eines fiktiven Szenarios in die Rolle des wissenschaftlichen Beirats einer Augsburger Kommission für Erinnerungskultur, um aus dieser Perspektive über den Umgang mit kolonialen Straßennamen, wie der Columbusstraße oder dem Welserplatz zu diskutieren.
In Rössers Workshop setzten sich die die Tagungsteilnehmer*innen mit einem Lokalzeitungsartikel zur Ausstellung „Weiss auf Schwarz – Kolonialismus, Apartheid und Widerstand“ im Jahr 1986 in Regensburg auseinander. Kolonialismus und Kolonialgeschichte wurden in der Berichterstattung nicht direkt thematisiert – obwohl das Begleitprogramm zur Ausstellung einschlägige Möglichkeiten geboten hätte. Uwe Timm las aus „Morenga“, im Kino lief „Die Liebe zum Imperium“ von Peter Heller. Der Fokus des Beitrags hingegen lag auf Beschädigungen von Ausstellungsstücken; dahinter vermutet wurden „Alt-Nazis“. Der sog. Historikerstreit fiel in dieses zeitliche Umfeld; er mag ein Grund dafür gewesen sein.
Was ist, was bedeutet Erinnerungskultur? Professor Dr. Jörg Skriebeleit im UR-Podcast „Gasthörer“. Foto: Katharina Herkommer / Universität Regensburg
Was für eine Gesellschaft wollen wir sein?
Im Plenum trugen die Workshop-Teilnehmer*innen ihre Erkenntnisse zusammen. Dazu gehörte, dass partizipatorische Ansätze wünschenswert seien. Aber sie sind offensichtlich höchst komplex – und kompliziert dazu. Aus aktivistischer Perspektive gestalte sich manches noch einmal anders, sagte eine Tagungsteilnehmerin, die Interessierte durch das koloniale Bayreuth führt. Gerechtigkeit werde nicht automatisch durch das Ändern eines Straßennamens hergestellt. Es brauche Antworten auf die Frage: Was wollen wir für eine Gesellschaft sein, worauf können wir uns einigen?
Im Stadtarchiv Regensburg nutzten die Wissenschaftler*innen am dritten Konferenztag die Möglichkeit, Bestände mit Bezügen zum deutschen Kolonialismus zu sichten. Weitere Themen: May Ayim – Alumna der UR, afrodeutsche Aktivistin, Pädagogin und Schriftstellerin. Sie zog Anfang der 1980-er Jahre von Regensburg nach Berlin, wo 2010 das ehemalige Gröben-Ufer nach ihr umbenannt wurde und heute May-Ayim-Ufer heißt. Möglicherweise verließ sie Regensburg, weil sie als Tochter einer Deutschen und eines Ghanaers vor Ort mit Rassismus konfrontiert war. Über die Quellen zu May Ayim im Universitätsarchiv sprachen die Forschenden mit dem Universitätsarchivar Dr. Andreas Becker am Nachmittag. Am Samstag setzten sich die Wissenschaftler*innen abschließend noch mit einem „unerwarteten Ort“, wie Philipp Bernhard ihn charakterisierte, auseinander: Dem „Afrikamuseum“ der Benediktinerabtei Schweiklberg im niederbayerischen Vilshofen an der Donau.
twa.
Informationen/Kontakt
Zum Zentrum Erinnerungskultur der Universität Regensburg
Open-Access-Literatur und Internetportale zum Thema:
Philipp Bernhard: Geschichtsvermittlung postkolonial. Eine geschichtsdidaktische Vermessung Postkolonialer Theorie. Göttingen 2024. https://www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com/themen-entdecken/paedagogik-soziale-arbeit/schulpaedagogik/58939/geschichtsvermittlung-postkolonial
Michael Rösser: Prisms of Work: Labour, Recruitment and Command in German East Africa, Berlin, Boston: De Gruyter Oldenbourg, 2024. https://doi.org/10.1515/9783111218090
Post-/koloniale Spuren in München: https://mapping.postkolonial.net/
Unterstützt wurde die Tagung durch die Förderung der Regensburger Universitätsstiftung Hans Vielberth. Der postkoloniale Stadtrundgang fand in Zusammenarbeit mit dem Evangelischen Bildungswerk Regensburg e.V. statt sowie der Fachschaft Geschichte, einem Seminar aus der Wirtschafts- und Sozialgeschichte der Universität Regensburg, dem Jugendbeirat Regensburg, der Partnerschaft für Demokratie Regensburg. Gefördert wurde der Stadtrundgang darüber hinaus durch das Bundesprogramm „Demokratie leben!“ des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend.