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Presse

Die Zukunft der Rente


03. Juni 2019 | Interview von Jan Kleine

Bewegungen wie FridaysForFuture oder das Video des YouTubers Rezo zeigen aktuell, dass sich die junge Generation sehr wohl mit politischen Fragen auseinandersetzt und so gesehen von der oft zitierten Politikverdrossenheit eigentlich nicht gesprochen werden kann. Neben Themen wie Demokratie, Nachhaltigkeit, Umweltschutz oder Gleichstellung rücken auch Diskussionen um das Rentenversicherungssystem vermehrt in den Mittelpunkt des Interesses junger Menschen. Erst im Februar dieses Jahres wird Prof. Dr. Fabian Kindermann, Lehrstuhl für Volkswirtschaftslehre, Ökonomie des öffentlichen Sektors, von der Fritz Thyssen Stiftung für das Projekt Die Zukunft der Rente zwischen Demographie und Armutsrisiko − Eine dynamische Gleichgewichtsanalyse mit differentieller Sterblichkeit und heterogenen Haushalten gefördert. Wir haben mit ihm über die Zukunft des deutschen Rentenversicherungssystems gesprochen.

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Sehr geehrter Herr Prof. Dr. Kindermann, in den Medien wird in Bezug auf die Rente immer wieder das Thema Altersarmut diskutiert. Betrachtet man das Phänomen jedoch genauer, ist dies in Deutschland nicht nur geringer als in anderen OECD-Staaten, die Armut ist unter den über 65-jährigen auch nur marginal höher als im Durchschnitt der Gesamtbevölkerung. Ist das aus Ihrer Sicht also ein wirkliches Problem, oder eher ein politisches Konstrukt? Und stellt sich dieses Problem nicht vielmehr mit Blick auf kommende Generationen?

Prof. Dr. Fabian Kindermann: Das Thema Altersarmut ist ein vielschichtiges Problem, das an einer Zahl nur schwer festzumachen ist. Wir wollen es aber trotzdem mal versuchen: Innerhalb Europas messen wir Armut gerne anhand der sogenannten Armutsrisikoquote, also dem Anteil der Bevölkerung, der mit einem Einkommen seinen Lebensunterhalt bestreiten muss, das weniger als 60 Prozent des Medianeinkommens beträgt. Zurzeit liegt diese Grenze für Einpersonenhaushalte bei einem Monatsnettoeinkommen von knapp 1100 Euro. Für die gesamte Bevölkerung ist die Armutsrisikoquote in 2017 vom Statistischen Bundesamt mit 16 Prozent beziffert worden, für die über 65-jährigen liegt der Wert bei 17 Prozent. Es ist also richtig, dass die Armutsrisikoquote im Alter nur unwesentlich von der der Gesamtbevölkerung abweicht.

Wollen wir uns jetzt jedoch mit anderen Ländern vergleichen, so ist ein simpler Vergleich mit EU- oder OECD-weiten Durchschnittswerten vermutlich nicht zielführend. Vielmehr sollten wir auf die Länder schauen, mit denen wir uns auch in anderen Dimensionen gerne vergleichen, also beispielsweise hinsichtlich der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit, der Staatsverschuldung oder der Bevölkerungsentwicklung. Mir fallen da spontan Länder wie Frankreich, Schweden, das Vereinigte Königreich oder die Niederlande ein. Verglichen mit diesen Ländern bewegen wir uns bei der Altersarmutsgefährdung eher im oberen Bereich. Das ist nicht notwendigerweise alarmierend, zeigt jedoch, dass das Thema in der politischen Diskussion durchaus seine Berechtigung hat.

Am wichtigsten ist es jedoch, sich Gedanken darüber zu machen, wie sich die Altersarmut in der Zukunft entwickeln wird. Aktuelle Studien sagen für die nächsten zwanzig Jahre einen merkbaren Anstieg der Altersarmut vorher. Sinkende Ersatzraten in der Rentenversicherung spielen dabei sicher eine Rolle. Aber auch die demographische Entwicklung des Haushalts in Form einer Abkehr vom klassischen Familienbild hin zu unsteteren Partnerschaften und Familien leistet dazu ihren Beitrag. Denn sie führt dazu, dass Risikogruppen, wie beispielsweise alleinerziehende Mütter, in Zukunft einen größeren Teil der Bevölkerung ausmachen.

Zusammengefasst lohnt es sich meines Erachtens schon jetzt, sich intensiv mit dem Thema Altersarmut auseinanderzusetzen, wenngleich ich aktuell keinen dringenden Bedarf für Schnellschüsse sehe. Eine Diskussion um nachhaltige und finanzierbare Lösungen für die Zukunft wäre mir da lieber.

"Ein einheitliches Regelrentenalter [...] führt [...] zu einer Umverteilung von Arm zu Reich."

Die Rentenbezugszeit hat sich seit 1970 aufgrund der ständig steigenden Lebenserwartung von knapp zehn auf über 17 Jahre gesteigert. Gleichzeitig wurde das Renteneintrittsalter jedoch nicht entsprechend angepasst. Zudem beeinflussen auch die unter dem Bestandserhaltungsniveau liegenden Geburtenraten das System negativ. Fehlt es hier am Reformwillen der Politik?

In den 2000er Jahren haben wir ja durchaus schon Reformen der Rentenversicherung gesehen, die in die richtige Richtung gingen. Dazu zählt sowohl die Rente mit 67 als auch die Kopplung von Rentenhöhen an die demographische Entwicklung. Es ist aber auch richtig, dass die letzten Jahre eher von einer Politik geprägt sind, die sich diesen Reformen entgegenstellt und mit allen Mitteln versucht, Beitragssätze niedrig und Ersatzraten hoch zu halten. In Zeiten einer positiven wirtschaftlichen Entwicklung mag dies ja durchaus finanzierbar sein, es geht aber zu Lasten künftiger Generationen.

Das Rentenalter sollte durchaus der demographischen Entwicklung folgen. Denn eine reine Verlängerung der Rentenbezugsdauer ohne gleichzeitige Ausweitung der Beitragszeit lässt sich langfristig nur durch hohe Beitragssätze oder starke Rentenkürzungen realisieren. Hier ist aber Vorsicht geboten. Aktuelle Studien zeigen, dass sich die erwartete Rentenbezugsdauer zwischen Einkommensgruppen stark unterscheidet. So leben die oberen zehn Prozent der Rentenbezieher im Schnitt etwa sieben Jahre länger als die unteren zehn Prozent. Eine reine Orientierung an der durchschnittlichen Rentenbezugszeit aller Rentner scheint da wenig sinnvoll. Ein einheitliches Regelrentenalter für alle Erwerbstätigen führt unter diesen Bedingungen zu einer Umverteilung von Arm zu Reich. Das kann nicht im Sinne des Rentensystems sein.

Mit den bislang getroffenen Regelungen und Maßnahmen wird es nicht möglich sein, das Rentenniveau über das Jahr 2030 bei einem Wert von 43 Prozent zu stabilisieren. Prognosen des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales aus dem Jahr 2016 gehen von einem Rückgang auf 41,6 Prozent bis zum Jahr 2045 aus und das bei einer gleichzeitigen Steigerung des Beitragssatzes von 18,7 auf 23,4 Prozent. Schätzen Sie diese Prognosen als realistisch ein, oder sogar als zu optimistisch?

Ich befürchte, die Situation wird noch viel schlimmer. Bisher galten für das Rentenniveau und die Beitragssätze recht vernünftige Haltelinien. Für das Jahr 2030 die genannten 43 Prozent beim Rentenniveau und 22 Prozent für den Beitragssatz. Auch wenn die Prognose des Bundesministeriums kein so rosiges Bild zeichnet, schienen diese Werte doch ansatzweise realistisch. Mit der Verabschiedung des Rentenpakets im November 2018 wurden jedoch die Haltelinien für das Rentenniveau bis zum Jahr 2025 auf 48 Prozent erhöht und gleichzeitig für den Beitragssatz auf 18,6 Prozent gesenkt. Das ist eine Rentenpolitik, die sich völlig abseits realistischer Vorstellungen bewegt und die einfachsten Gesetze eines umlagefinanzierten Systems, wie es unsere Rentenversicherung ist, ignoriert.

Das Schlimmste daran aber ist, dass künftige Generationen – und zwar sowohl Rentner als auch Erwerbstätige – stark unter dieser Politik leiden werden. Denn die eingezogenen Haltelinien werden dazu führen, dass die Rentenversicherung ihre Reserven in den nächsten Jahren sehr schnell aufbrauchen wird. Ist dies der Fall, wird das Einhalten von Haltelinien immer komplizierter. Schlussendlich können nur noch hohe Beiträge und steuerliche Zuschüsse, eine massive Leistungskürzung nach 2025 oder eine weitere Erhöhung des Rentenalters das Problem wieder beheben. All das belastet künftige Generationen, die die Folgen des demographischen Wandels dann mit aller Macht zu spüren bekommen werden.

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"Besonders erfreulich [ist], dass junge Menschen mittlerweile wieder eine Stimme in der Politik haben und sich aktiv für Zukunftsthemen einsetzen."

Reformen am bestehenden Rentenversicherungssystem erscheinen oftmals als rein kosmetische Maßnahmen. Müsste eine Reform nicht viel grundlegender angelegt sein, um tatsächlich den gewünschten Erfolg erzielen zu können?

Tatsächlich würde ich mir gerade bei der Rente mehr Reformmut wünschen. Jüngste Reformen zielen immer auf ganz spezielle Themen ab – beispielsweise die Mütterrente oder die Rente mit 63. Ein grundsätzliches Nachdenken über ein tragfähiges Alterssicherungssystem, wie wir es in Ansätzen in den 2000er Jahren erlebt haben, bleibt jedoch aus.

Unumstritten ist, dass Senioren eine der größten Wählergruppen bilden und man sich offensichtlich um den Verlust dieser Wählerstimmen sorgt. Vor diesem Hintergrund finde ich es besonders erfreulich, dass junge Menschen mittlerweile wieder eine Stimme in der Politik haben und sich aktiv für Zukunftsthemen einsetzen. Das ist wichtig und stößt in der Parteienlandschaft hoffentlich eine Reflexion über Themenschwerpunkte und Reformwille an. Denn irgendwann werden wir uns mit dem Thema einer tragfähigen Alterssicherung auseinandersetzen müssen. Wir können es natürlich möglichst weit vor uns herschieben. Die Situation wird dadurch aber nur schlimmer.

Wie würde Ihrer Auffassung nach ein tragfähiges und für alle Beteiligten gerechtes Rentenversicherungssystem aussehen?

Aus meiner Sicht sollte ein tragfähiges und gerechtes Rentensystem mehrere Eigenschaften vereinen. Erstens sollte es ein vernünftiges Rentenniveau für diejenigen sichern, die kaum private Vorsorge während der Beitragsphase leisten können. Zweitens sollte es auch Arbeitsleistung unabhängig vom Einkommen honorieren. Drittens sollte es nicht zugunsten einkommensstarker Gruppen umverteilen. Und viertens sollten Rentenleistungen nicht unnötig ausgeweitet werden, um Probleme der langfristigen Tragfähigkeit zu vermieden.

Um dies zu realisieren würde ich vor allem an der Berechnungsformel für Rentenleistungen ansetzen. In unserem Rentensystem erwirbt man sogenannte Entgeltpunkte. Diese Punkte werden anschließend mit dem aktuellen Rentenwert multipliziert, um die Rentenzahlung zu berechnen. In Westdeutschland liegt dieser bei aktuell rund 33 Euro. Wer ein Jahr lang zum Durchschnittseinkommen arbeitet erzielt genau einen Entgeltpunkt. Wer also 45 Jahre lang ein Durchschnittseinkommen verdient hat, der erhält 45 Punkte und damit 1485 Euro Rente im Monat. Wer hingegen 35 Jahre zu einem Mindestlohn von vielleicht 1450 Euro im Monat arbeitet, erhält auch nur knapp 16 Entgeltpunkte und damit eine Rente von 517 Euro. Wir sprechen in diesem Zusammenhang auch von Beitragsäquivalenz. Sprich: Wer die Hälfte verdient, bekommt bei gleichen Erwerbsjahren auch nur die Hälfte an Rente.

Die mir vorschwebende Rente würde das Prinzip der Beitragsäquivalenz dahingehend durchbrechen, dass es zwei unterschiedliche Arten von Entgeltpunkten vergibt: Arbeitsleistungspunkte, die dafür vergeben werden, dass eine Person am Erwerbsleben teilgenommen und daher Beiträge gezahlt hat; und auf der anderen Seite Einkommensleistungspunkte, die wie bisher auf Basis des Erwerbseinkommens berechnet werden. Um eine massive Ausweitung der Rentenversicherungsleistungen zu verhindern, müssen die beiden Punktesysteme in einem gewissen Verhältnis zueinanderstehen. Bewerten wir ein Jahr an Arbeitsleistung mit 0.5 Punkten, so müssten die Einkommensleistungspunkte gegenüber dem bisherigen System um genau 50 Prozent gekürzt werden.

Verwenden wir wieder unser Beispiel: Wer 45 Jahre zum Durchschnittseinkommen gearbeitet hat, erhält weiterhin 45 Entgeltpunkte – 22.5 für die Arbeitsleistung und 22.5 für die Einkommensleistung – und damit 1485 Euro Rente. Wer aber 35 Jahre lang zum Mindestlohn arbeitet erhält nun gut 25.3 Punkte, nämlich 17.5 aus der Arbeitsleistung und 7.8 aus der Einkommensleistung. Die Rente steigt auf 836 Euro und liegt damit über dem Grundsicherungsniveau. So wird Arbeitsleistung honoriert und dem Arbeitnehmer der Gang zum Sozialamt im Alter erspart. Ein solches System könnte tatsächlich sämtlichen der oben angeführten vier Eigenschaften entsprechen. Wichtig ist dabei, dass Arbeitsleistungspunkte auch tatsächlich für Arbeitsjahre beziehungswiese Monate vergeben werden. So werden positive Arbeitsanreize für Geringverdiener gesetzt, denn mit jedem zusätzlichen Arbeitsjahr können entsprechende Rentenansprüche erworben werden.

Natürlich hat dieses System auch Leistungskürzungen zur Folge, nämlich für Arbeitnehmer, die Einkommen oberhalb des Durchschnitts beziehen. Hierzu braucht es eine entsprechende Bestandsregelung, so dass deren Leistungen kurzfristig erhalten bleiben. Langfristig ist dies jedoch die Gruppe, die durch private Sparleistung Vorsorge treffen kann und werden muss. Zudem erhält diese Gruppe aufgrund ihrer längeren erwarteten Lebensdauer im aktuellen System sowieso schon überproportional viele Leistungen. Diesem Umstand würde somit Rechnung tragen.
Ein zusätzlicher positiver Effekt ist, dass das von mir vorgeschlagene System das Zweiverdiener-Modell in der Familie fördert. Zwar wird die Rentenleistung des Erstverdieners geschmälert, allerdings kann ein Zweitverdiener – in Familien mit Kindern typischerweise die Frau – durch Arbeitsleistung überproportional viele Punkte erwerben, womit auch negativen Arbeitsanreizen aus dem Splitting-System der Einkommensteuer entgegengewirkt würde.

Vielen Dank, Herr Prof. Dr. Kindermann, dass Sie sich die Zeit genommen haben und vor allem vielen Dank für die interessanten Ein- oder vielmehr Ausblicke in Bezug auf das deutsche Rentenversicherungssystem.


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