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Forschung

Seit 1974 erforschen wir mit vielen Schülern auf der Grundlage der Bindungstheorie die Entwicklung von gesunden Kindern in ihren Familien von der Geburt bis ins junge Erwachsenenalter.  Die Forschung schloss Untersuchungen in anderen Kulturen ein, untersuchte die Bedeutung von Exploration und die Rolle des Vaters für die soziale und emotionale Entwicklung des Kindes  bis  zum Alter von 22 Jahren.

Die Bindungstheorie

Die Bindungstheorie befasst sich mit Entwicklungsbedingungen, die zu angemessenem Fühlen, Denken und Handeln von Individuen im Einklang mit der Wirklichkeit und im Zusammenleben mit anderen führen. Im Zentrum steht das Verhalten in engen Beziehungen, wenn das Bindungssystem aktiviert ist (bei Kummer, Ärger, Trauer und allen Belastungen). Der Entwicklungsprozess erstreckt sich über den gesamten Lebenslauf in engen Beziehungen.

Die Qualität elterlicher Feinfühligkeit gegenüber den Bedürfnissen, Signalen und Kommunikation des Säuglings legt die Grundlage für die Entwicklung der Bindungsqualität des Kleinkindes, empirisch belegt vor allem durch die bahnbrechenden Arbeiten von Mary D. S. Ainsworth. Bindungsqualitäten sind die unterschiedlichen Verhaltensstrategien im Umgang mit Distress, basierend auf der entwickelten Organisationen von Gefühlen und den interpersonellen Zielen. Bindungsqualitäten können schon beim Kleinkind in der 'Fremden Situation' empirisch erfasst werden, stellen aber dann nur die früheste Erscheinungsform sicherer oder unsicherer Bindungs-Verhaltens-Strategien dar. Die Bindungsqualität ist eine Eigenschaft einer bestimmten dyadischen Beziehung und anfangs noch kein Persönlichkeitsmerkmal des Kleinkindes. Bindungsqualitäten sind die emotionale Grundlage für das theoretische Konzept "Internaler Arbeitsmodelle" von John Bowlby.

Mit Beginn der Sprachentwicklung erwirbt das Kind zusätzlich zur empfundenen Bedeutung interaktiven Verhalten im Diskurs sprachliche Bedeutungen über Erfahrungen und Erlebnisse im Sinne eines 'Autobiographischen Selbst'. Dies geschieht zunächst fast nur mit den Eltern, später auch mit anderen Erwachsenen. Das autobiogaphische Selbst beeinflusst die Entwicklung realitätsnaher oder -ferner "internaler Arbeitsmodelle über sich und andere", ob man wertvoll ist und ob andere einem wert schätzen. Das internale Abeitsmodell dient dem Individuum, ihr Verhalten zu planen mit all den Vorteilen der Einsicht und Voraussicht. Drei Aspekte wirken dabei zusammen, die Organisation der eigenen Gefühle, Motivklärung bei sich und dem anderen und Handlungsperspektiven.

Auf diesen emotionalen, sozialen und kognitiven Grundlagen entwickeln sich aus phylogenetisch vorprogrammierten Bindungsbedürfnissen (Genotyp) durch qualitativ unterschiedliche Bindungsbeziehungen unterschiedliche psychologische Anpassungen (Phänotyp). Ein Gefüge psychischer Sicherheit entwickelt sich bei einer Person aus feinfühligem Eingehen auf seine Bindungsbedürfnisse von vertrauten anderen zusammen mit feinfühliger Unterstützung und Herausforderung von Neugier beim Erkunden und Verstehen der Welt, in der man lebt.


Längsschnittforschung

Längsschnittforschung gelingt zum einen nur bei guter Stichprobenpflege und zum zweiten nur bei kontinuierlicher Forschungsförderung. Die Familien, die freiwillig mitmachen, müssen Wertschätzung, Dankbarkeit und aufrichtiges, vorurteilloses Interesse erfahren. Persönliche Briefe, Glückwünsche und kleine Geschenke erhalten die Verbundenheit. Sorgfältiger Datenschutz der Familien ist selbstverständlich. Aber auch dann kann es leider noch geschehen, dass sie ihre Mitarbeit einstellen.

Längsschnittlich überzeugende Ergebnisse hängen von der Unabhängigkeit der jeweils erhobenen Daten zu jedem Alterszeitpunkt ab. In unseren Längsschnittuntersuchungen wurde jede Datenerfassung von einem jeweils neuen Forschungsteam durchgeführt, um Beeinflussungen durch vorherige Kenntnisse über die beteiligten Familien auszuschließen. Die aktuelle Datenanalyse muss also erst vollständig fertig sein, bevor Datensätze von vorherigen Erhebungen am Rechner zusammengeführt werden.

Wünschenswert ist Kontinuität der engsten Mitarbeiter und eine sorgfältige Dokumentation, damit die Bedeutungen und definitorischen Kompositionen von Variablen nicht verloren gehen. Dagegen erfordern erneute längsschnittliche Datenerhebungen jeweils neue, von früheren Untersuchungen unbeeinflusste Mitarbeiter, die angeleitet werden müssen. Das Engagement aller an den Daten arbeitenden Mitarbeiter und Studenten wird auch dadurch gefördert, dass alle Ergebnisse in den längsschnittlichen Rahmen gestellt werden. So können Prädiktoren und Folgen der erfassten Variablen deren Bedeutung und Validität vergrößern.


Bindungsforschung

Bindungsforschung beruht auf der Bindungstheorie von John Bowlby und ihrer empirischen Umsetzung zunächst durch Mary Ainsworth. Sie befasste sich bis in die Mitte der 80er Jahre mit den Einflüssen mütterlicher Feinfühligkeit auf die sich entwickelnden Bindungsqualitäten bei Säuglingen und Kleinkindern.

Diese Bindungsqualitäten oder Bindungsmuster (patterns of attachment) werden traditionell als

  • 'sicher' ('B')
  • 'unsicher-vermeidend' ('A')
  • und 'unsicher-ambivalent' ('C')

gekennzeichnet und stehen für die Organisation von Gefühlen und Verhalten bei aktiviertem Bindungssystem in Gegenwart einer individuellen Bindungsperson.

Mary Main erkannte neben den klassischen Verhaltensstrategien die Bedeutsamkeit von Desorganisation oder Desorientierung im Verhalten der Kinder ('disorganized/disoriented', 'D'). Jede der traditionellen Bindungsmuster kann auch in desorganisierter Form auftreten. Desorganisation spielt in klinischen Untersuchungen eine prominente Rolle. Gottfried Spangler (Spangler & Grossmann, 1993) belegte an Hand von Bestimmungen des Stresshormons Cortisol alle Formen von Desorganisation als 'bindungsunsicher'.

Für Eltern entwickelte Mary Main das Bindungsinterviews für Erwachsene ('Adult Attachment Interview'). Es erfasst sprachlich die Bindungsrepräsentation oder die Einstellung des Erwachsenen zu Bindungen. Auf diesen Standardmethoden und weiteren anderen beruhen auch unsere Längschnittuntersuchungen zur Bindungsentwicklung von Kindern in ihren Familien, die zu Beginn der Untersuchung keine Risikofaktoren aufwiesen (Grossmann & Grossmann, 2004).

Aktuelle Fragen der Bindungsforschung betreffen vor allem die weitere Entwicklung und Erscheinungsformen von Bindungsqualitäten, die anhand von Verhaltensmustern bestimmt werden, zur Bindungsrepräsentation in Kindheit und Erwachsenenalter, die anhand von Bindungsinterviews bestimmt werden, sowie auch die Wechselbeziehungen zwischen Bindungsverhalten und Bindungsrepräsentation im weiteren Verlauf der Entwicklung. Korrelationen zwischen den Bindungsrepräsentationen der Eltern und der Bindungsqualität ihres Kindes sind transgenerational mehrfach nachgewiesen worden.

Weiterhin geht es um Zusammenhänge zwischen Bindungsrepräsentation, Bindungsverhalten und psychologischer Adaptabilität, auf der Grundlage der Qualität des Fühlens, erklärenden Verstehens und handlungsfähigen Planens im Einklang mit der Wirklichkeit und dem Denken, Fühlen und Wollen nahe stehender Personen. Dies erfordert ein neuartiges, induktives, entdeckendes Vorgehen zur Gewinnung von Hypothesen, und ihrer statistischen ('beweisenden') Überprüfung. Trotz enormen Aufwandes kann dies nur längsschnittlich erfolgen, also durch wiederholte Erfassung derselben Probanden von der Geburt bis zum Erwachsenen, idealer Weise sogar bis zu deren eigener Elternschaft.

Die klinisch und therapeutisch orientierte Bindungsforschung hat in den letzten Jahren sprunghaft zugenommen, was sehr im Sinne von John Bowlby ist, der die Bindungstheorie ursprünglich für seine klinisch arbeitende Zunft geschaffen hat. 



Karin und Klaus Grossmann