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Mitteilungen der Universität Regensburg

(Re-)Ordering Eastern Europe

IOS-Jahrestagung 2023 in Regensburg – Über terminologische Tücken, Geopolitik und Wissenshierarchien – Aus den Keynotes


26. Oktober 2023

Die „(Neu-)Ordnung Osteuropas“ ist ein anspruchsvolles und langfristiges Unterfangen. Einen Masterplan gibt es nicht. Dass mit dem Begriff "Osten" oft Ostmitteleuropa, Südosteuropa, der Südkaukasus und sogar Zentralasien gemeint sind, macht die Sache nicht einfacher. Auf der IOS – Leibniz-Institut für Ost- und Südosteuropaforschung – Jahrestagung am 12./13. Oktober 2023 in Regensburg diskutierten internationale Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler verschiedener Disziplinen über eine Weltregion, die „von ständigen Neuverhandlungen und Neujustierungen von Zentren und Machtverhältnissen sowie von Sicherheitsarrangements mit volatilen und fragmentierten Koalitionen geprägt ist“, wie die Organisatorinnen Dr. Cindy Wittke, Leiterin der IOS Political Research Group, und Professor Dr. Ulf Brunnbauer (Akademischer Direktor des IOS) die aktuelle Situation in ihrer Einladung schilderten.

Durch das Prisma des Krieges in der Ukraine konzentrierten sich Regensburger (Early-Career-)Wissenschaftler*innen und ihre Kolleg*innen aus dem In- und Ausland bei der Tagung auf eine Vielzahl von Themen: darunter die Resilienz der Ukraine, digitale Politik, Sezessions- und Fragmentierungsprozesse im postsowjetischen Raum oder (Übergangs-)Justiz während und nach Kriegen. Konferenzpanels mit Diskussionen und multidisziplinären Gesprächen wechselten sich ab.

In den beiden Keynotes hinterfragten zwei Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler Ansätze, Inhalte und Output ihrer wissenschaftlichen Community: Martin Müller, Professor am Departement Geographie und Nachhaltigkeit der Universität Lausanne, ein internationaler Experte für die Nachhaltigkeit von (Sport-)Grossveranstaltungen und Kulturinstitutionen (wie Museen oder Theatern), und Gwendolyn Sasse, Akademische Direktorin des Berliner Zentrums für Osteuropa- und internationale Studien (ZOiS) und Einstein-Professorin für Vergleichende Demokratie- und Autoritarismusforschung am Fachbereich Sozialwissenschaften der Humboldt-Universität zu Berlin.

Multidisziplinäre Gesprächsrunde bei der IOS-Jahrestagung 2023. Foto: Franz Kurz

Dass die Terminologie im Forschungsfeld Area Studies nur eines von vielen offenen Themen ist, zeigten beide Vorträge. „Decolonising decolonialism – Worlding global theory with Eastern Europe“ lautete die Überschrift der Keynote von Martin Müller. Bevor Martin Müller in die Komplexität des Wor(l)dings eintauchte, empfahl er, bei der Beantwortung der wichtigen Fragen unserer Zeit mehr globale und soziale Kulturtheorie einzubeziehen. Er erinnerte an den Aufwind des „decolonial turn“ der letzten Jahre und den wissenschaftlichen Anspruch, die westliche Rationalität als einzigen Analyse- und Denk-Rahmen abzulösen. „Die (!) Osten", Müller besteht auf den Plural, hätten in der dekolonialen Theorie gefehlt, seien „unbemerkte blinde Flecken". Die Wissenschaftler des Ostens, etwa aus dem postsowjetischen Raum, hielten sich meist aus der Theoriebildung heraus: „Die dekoloniale Theorie kehrt den eurozentrischen Blick um, untergräbt aber nicht sein Blickfeld."

Globaler Süden, das Jahr 1492, "Othering"

Laut Müller hatte dies vier Gründe: „Spatialities“ – der „hemisphärische Trugschluss", in dem die Wissenschaft die Welt in den Globalen Norden und den Globalen Süden aufteilte. Zweiterer sei zum Synonym für die Welt der nicht-europäischen, postkolonialen Völker geworden – und schließe den Osten aus. Müllers zweiter Punkt: „Temporalities“, Zeitlichkeiten, und die Fixiertheit auf das Jahr 1492: Die europäische Entdeckung Amerikas und Europa als die dominierende Macht im Atlantik lenkten den wissenschaftlichen Fokus auf den Norden.

Andere Imperien der Zeit, die sich ausweiteten und östliche wie westliche Reiche prägten – Müller erinnert an Mongolen und Timuriden - seien vernachlässigt worden: „Geschichte wurde nicht von den Siegern geschrieben, sondern von denen, die schreiben konnten." Schließlich – und das ist Müllers dritter Punkt – die Narrative, das „Othering“. Für den Westen war der Osten über Jahrhunderte hinweg immer ein wenig anders, seine Konnotation von Philosophie und politischer Weltordnung beeinflusst: der „faszinierende exotische Osten“ bis zur Aufklärung, der „rückständige Osten“ von der Aufklärung bis zur Industrialisierung, der „bedrohliche böse Osten“ während des Kalten Krieges und der „gescheiterte Osten“ – die Jahre nach dem Kalten Krieg.

Martin Müller bei der IOS-Jahrestagung 2023 in Regensburg. Foto: Franz Kurz

Geopolitik des Wissens

Schließlich die Epistemik: Um Wissen produzieren zu können, braucht es Zugang zu den Zentren der Wissensproduktion, so Müllers Argument. Allerdings gebe es unterschiedliche Zugänge zu Sprachen und „linguistische Privilegien für hegemoniale Sprachen“: „Entscheidend ist, wie wir globale Wissensproduktion vermitteln." Nach Müllers Recherchen stammen die Redaktionsmitglieder der einflussreichsten wissenschaftlichen Zeitschriften seines Fachs zu fast 90 % aus westlichen und nur 0,8 % aus postsozialistischen Ländern. „Wissen, das an bestimmten Orten, vor allem in Anglo-Amerika, produziert wird, ist angeblich universeller und daher wertvoller als das, was an anderen Orten produziert wird."

Der Zugang zu Englisch verleihe eine übergroße epistemische Macht – davon ist Müller überzeugt. Das Fehlen Osteuropas in der dekolonialen Theorie hat aus Sicht des Wissenschaftlers eine „epistemische Enklavisierung“ in der Wissenschaft zur Folge: Osteuropa liefere die Fallstudien, generiere aber nicht die Theorien. Fachkompetenz verdränge systematische Expertise.

„Was können wir tun, um den Osten stärker einzubinden?“ fragt Müller und bringt damit eine neue Terminologie ins Spiel. Es gebe die Notwendigkeit, eine ganzheitliche Welt zu denken, sagt der Wissenschaftler, an den französischen Terminus „mondialisation“ erinnernd. Sein Vorschlag: „Worlding“ anstelle von „Dekolonisierung“. Und noch mehr verändertes Vokabular will Müller sehen – „Sagen Sie Osten, wenn Sie Süden sagen“, „Hinterfragen Sie totemistische Konzepte“, „Überlegen Sie, wen Sie zitieren“ – es müsse nicht immer der gleiche Kanon an Autor*innen sein.

Müller plädiert für eine zunehmende Verwendung anderer Sprachen als Englisch und empfiehlt, deren semantischen Reichtum zu nutzen. Es gelte, die Architektur der Wissensproduktion zu verändern. Wird Osteuropa es irgendwann in die dekolonialen Theorien schaffen? Müller beantwortet die Frage mit einem Augenzwinkern: „Das wird es. Wenn ich in den Ruhestand gehe, wird die globale Theoriebildung viel östlicher sein als jetzt.“

Gwendolyn Sasse bei der IOS-Jahrestagung 2023 in Regensburg. Foto: Valentin Kordas

Für Diskussion der Terminologie

Gwendolyn Sasse, beschrieb ihren Vortrag als komplementär zu Müllers. Sie lud ein, mit ihr „darüber nachzudenken, wie wir Osteuropa im weitesten Sinne studieren wollen – und wie nicht". In diesem Zusammenhang skizzierte sie drei Momente, die bei einer Neuordnung der Erforschung von Osteuropa stattfinden könnten.

Erstens schlug die Wissenschaftlerin „die Neuordnung der Terminologie und die Neuordnung der Konzeptualisierungen“ vor und erinnerte ihr Publikum daran, „dass die Terminologie unser Denken, unsere Analyse, unsere Schlussfolgerungen und sogar unsere politischen Reaktionen prägt“. Sasse empfiehlt, den Begriff der "Area Studies" immer wieder neu zu überdenken - denn aus ihrer Sicht werde er denjenigen, die in einem Gebiet leben und dieses Gebiet formen und prägten, nicht gerecht. In den Sozialwissenschaften würden Area Studies oft als etwas Besonderes und methodisch Schwächeres als die Mainstream-Disziplinen dargestellt, auch nicht als eigenständige Disziplin anerkannt. In der akademischen Welt gehe es immer noch um traditionelle Disziplinen, nur wenig um die Querverbindungen zwischen ihnen. Die Area Studies wegzusperren hält Sasse für eine schlechte Idee - die exzellente Forschung auf diesem Gebiet ebenso betonend wie die gebotene Notwendigkeit, den Ort oder die Verbindungen konkreter Länder zu verstehen.

Für bessere Forschungskommunikation

Der zweite aus Sicht Sasses notwendige Prozess sei eine „Neuordnung der Forschungskommunikation“, insbesondere in Krisensituationen. Seit Februar 2022 seien viele Expert*innen in die Medien katapultiert worden. Damit sei mehr Raum für wissenschaftliche Expertise entstanden, aber selbst wenn Raum gewährt wird, ist es aus Sicht der Forscherin schwierig, „das Beste aus einer Begegnung zu machen“. Journalisten fragten Wissenschaftlerinnen oft dasselbe, was sie auch ihre Kollegen*innen fragten, die über den Krieg vor Ort berichteten – das ergebe keinen Sinn. Gleichzeitig sei der Pfad, „zwischen Expertise, Kommentar und Aktivismus" glitschig. Forschungskommunikation zu trainieren sollte auf dem Karriereweg von Wissenschaftler*innen wichtiger werden, fordert Sasse. Als bereichernd bezeichnete sie in diesem Kontext Begegnungen mit Schulklassen: „Das zeigt Fallstricke.“

Für strukturelle Neuordnung

Ein dritter Prozess, der im Kontext einer „(Neu-)Ordnung Osteuropas“ angeschoben werden müsse, sei eine „Neuordnung der Struktur und der Netzwerke hinter der Forschung“. Die vergleichende sozialwissenschaftliche Forschung zu den Auswirkungen von Kriegen sei tendenziell durch ein empirisches Vakuum für laufende Kriege gekennzeichnet, während die Nachwirkungen von Kriegen oft gut dokumentiert seien. Wenn es um die Aggression Russlands gegen die Ukraine gehe, so das prominente Beispiel Sasses, müsse man in der Forschung zwischenzeitlich auch an Smartphones und Messenger-Dienste denken: „Es gibt eine Vielzahl von Einstiegspunkten, auch jenseits der Sozialwissenschaften.“

Ein weiteres Thema: Was kann vor Ort erforscht werden? Sasse erinnert an Zugangsbeschränkungen und verschiedene Einschränkungen der Feldforschung. Es gebe dabei persönliche Risiken, aber auch ethische Fragen, zum Beispiel in Bezug auf Interviews. Forschende müssten praktischen und ethischen sowie methodischen Herausforderungen mehr Aufmerksamkeit schenken. Bürger*innen und Entscheidungsträger*innen sowie Forschende erweitern ihre Netzwerke, sagte Sasse, würden prominenter "und werden bleiben". Es sei notwendig, aktiver zu kommunizieren, etwa jenseits von wissenschaftlichen Fachdebatten.

In ihrem Fazit plädierte Sasse dafür, „den Gegenstand unserer Forschung so konkret wie möglich zu benennen“: So seien „Osteuropastudien“ letztlich „Studien zu Osteuropa“. Und einen weiteren Rat hat die Forscherin: „Die Kombination verschiedener Arten von Fachwissen ist sinnvoll, aber eine Hierarchie des Wissens und was es in der Krise zu bieten hat, ist es nicht.“

twa.

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