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Regensburger Impressionen von Ágnes Erdélyi

Imre Tóth, im Halbprofil. Foto: Ágnes ErdélyiRegensburg, Ende 80er Jahre

Professor Imre Toth war mein Gastgeber, als ich gegen Ende der 80er Jahre als Humboldtstipendiatin eine zweijährige Forschungsperiode an der Universität Regensburg verbracht habe. Vorher hatte ich seine Schriften gelesen und einigen seiner Vorträge beigewohnt und so nur („nur“!) einen außergewöhnlichen Philosophen, einen Mathematikhistoriker, und auch einen exzellenten Redner gekannt. In diesen zwei Regensburger Jahren habe ich dann einen wahren Künstler, Schöpfer wunderbarer Fotos, bzw. Foto-Montagen, einen Mann mit Humor, eine charmante Person kennengelernt. Hier möchte ich weniger des Professors und Gelehrten, vielmehr Imres, dieser Künstler-Person, gedenken ...


Imre hat mir Regensburg und Umgebung gezeigt. Wir haben auch die Walhalla besucht, wo er eine Menge Fotos gemacht hat. Ich zeige mein Lieblingsfoto. Es sind zu sehen: Schelling, Beethoven, Kaiser Wilhelm I. und Imre selbst – der letztere mit seinem Signum, da er den Namen „Imre“ auf das Gesicht Seiner Majestät aufgebracht hat:

Büste von Schelling, Beethoven, Kaiser Wilhelm I., letzterer mit Signum von Toth


Und jetzt zeige ich das volle Signum von Imre Toth, recte: von Tóth Imre, da er den Namen in ungarischer Reihenfolge und mit ungarischem Akzent gezeichnet hat. 

Ich habe mich immer gefragt, ob er in diesem Signum nicht sein eigenes Profil geschildert hat. Eine definitive Antwort kann ich nicht geben – aber heute noch habe ich immer den Eindruck, dass dies unbedingt möglich ist.

Signum Tóth Imre


Das nächste Foto soll seinen eigenartigen Humor vorstellen (man lese unbedingt auch die Schrift auf der Rückseite, um ihn ganz wahrzunehmen).

Schaufenster der Metzgerei Kain in Regensburg


Immer wieder hat er die Steinskulpturen des Regensburger Doms fotografiert, besonders die Gestaltungen, in denen der christliche Antijudaismus zur Schau kam. Die wohlbekannte biblische Szene des goldenen Kalbes und das häufige Motiv der „Judensau“ in den hochmittelalterlichen Spottbildern, die an sich vielleicht nicht besonders bedrohlich wirken könnten, erhalten eine unheilvolle Bedeutung durch die „zeitlose Datierung:“ vor dem Pogrom. Denn sozusagen sind wir immer vor dem (nächsten) Pogrom ...

Damals erfolgte der nächste Pogrom im Jahr 1519: die Vertreibung der jüdischen Gemeinde aus Regensburg.

Regensburg ist der Ort, wo auch das fotografiert werden kann, was nach dem Pogrom übrigbleibt: die Grabsteine, die die Regensburger Bürger nach der Vertreibung der Juden aus dem jüdischen Friedhof entwendet und als Baumaterial genutzt haben.



Epilog

Nach den Regensburger Jahren haben wir die Verbindung nicht mehr verloren, ja, wir sind Freunde geblieben. Ich habe ihn später, als er schon in Paris lebte, mehrmals dort besucht und auch in Budapest sind wir uns häufig begegnet. Auch unsere Arbeitsverbindung haben wir nicht ganz abgebrochen, so habe ich seinen Aufsatz Von Wien bis Temeswar: Johann Bolyais Weg zur nichteuklidischen Revolution [1] ins Ungarische übersetzt. [2] Zum Abschluss möchte ich aber vielmehr eine andere Schrift hervorheben, die mich am tiefsten geprägt hat.

Imre war ein Holocaustüberlebender (soweit ich weiß, war er der einzige in seiner Familie). Das Thema der zweitausend Jahre langen Geschichte des europäischen Antisemitismus und deren Konsequenzen im heutigen Europa hat ihn immer beschäftigt; und in der Zeit um die Jahrtausendwende hat er sich darüber auch öffentlich – im Konferenzvortrag, in Interviews und Schriften – geäußert. Im Jahr 2001 hat man seinen Vortrag, den er in Neapel gehalten hat, [3] ungarisch veröffentlicht [4] und aus diesem Anlass hat er der Zeitung Népszabadság ein Interview gegeben. [5] Buchcover Tóth Imre: Zsidónak lenni Auschwitz után

Er hat erklärt, dass das Thema seines Vortrags: was es bedeutet Jude zu sein nach Auschwitz, ihn jahrzehntelang beschäftigt hatte und noch immer beschäftigt, einmal wäre aus ihm die alpträumerische Selbstbestimmung herausgebrochen, dass er ein Wurm sei: „Ja, ein Wurm: Jude sein nach dem Holocaust;“ und sein eigenes Wort habe ihn selbst so stark schockiert, dass es ein Jahr dauerte, bis er den Vortrag in schriftliche Form zu kleiden wagte.

Als ich jetzt seinen Text neugelesen habe, wirkte er noch stärker als je auf mich. Ich mag einige seiner Formulierungen als provokativ, einige seiner Behauptungen als übertrieben empfinden, seinem Einfluss konnte und kann ich mich damals wie heute nicht entziehen. In seiner Schrift bezeichnet Imre Paul Celans Todesfuge als „aufwühlend“, [6] und diese Bezeichnung passt genau auch auf seinen eigenen Text. Mir fällt die Passage aus Celans berühmter Rede ein:

Es ist das Gegenwort, es ist das Wort, das den Draht zerreißt, das Wort, das sich nicht mehr vor den „Eckstehern und Paradegäulen der Geschichte“ bückt, es ist ein Akt der Freiheit. Es ist ein Schritt. (Dankrede von Paul Celan, Georg Büchner-Preis, 1960)

Ja, diese Bezeichnung bestimmt so genau wie keine andere seinen eigenen Text, und ich scheue mich nicht davor, ausdrücklich hinzufügen: den Autor seines Textes, ihn selbst. „Aufwühlend:“ so lautet Imre Toths letztes „Gegenwort.“

Ágnes Erdélyi


[1] Veröffentlicht in Annemarie Maeger: János Bolyai. Der Mozart der Mathematik. Leben und Werk. Maeger, Hamburg, 1999. S. 21–68.

[2] Tóth Imre: Bécstől Temesvárig: Bolyai János útja a nem-euklideszi forradalom felé. Typotex, Budapest, 2002.

[3] Imre Toth: Jude sein nach dem Holocaust. Die Shoah in Interpretation und Gedächtnis. Internationales Kolloquium in Neapel, 5–7. Mai, 1997. Schlussvortrag. (Manuskript. Aus dem Französischen übersetzt durch Peter v. Baggo.)

[4] Tóth Imre: Zsidónak lenni Auschwitz után. Pont, Budapest, 2001.

[5] nol.hu/archivum/archiv-27711-16994

[6] Die Dichtung Paul Celans hat die zeitgenössische deutsche Literatur durchdrungen, und seine außerordentliche Wirkung gründet sich gerade auf seine spezifisch jüdische Botschaft, die fortan ein organischer und essentieller Teil des spezifisch deutschen Geisteserbe ist. Seine aufwühlende Todesfuge ist nicht nur Pflichtlektüre in den Schulen, sondern Tausende von Deutschen kennen sie auswendig. (Imre Toth: Jude sein nach dem Holocaust. S. 17.)


Imre Tóth

"Ein Leben zwischen Kunst und Wissenschaft"

Imre Tóth

(1921-2010)

Ausschnitt aus einem griechischen Text von Aristoteles mit Bearbeitungsspuren von Imre Tóth