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Mitteilungen der Universität Regensburg

Goethe and Black America

Gastvortrag von Harvard-Emeritus Professor Dr. Dr. h. c. Werner Sollors, Ehrendoktor der Universität Regensburg, bei den Regensburger American Studies


22. Mai 2023

„Ein transnationaler Wissenschaftler im besten Sinne des Wortes, ein liebenswürdiger Kollege und ein großartiger Mensch, der seit vielen Jahren beste Beziehungen zur Universität Regensburg pflegt“: Mit diesen Worten empfing Professorin Dr. Julia Faisst ihren Kollegen Professor em. Dr. Werner Sollors, Henry B. and Anne M. Cabot Professor of English Literature der Harvard University, am 10. Mai 2023 zu dessen Gastvortrag “Goethe and Black America” an der Universität Regensburg. Werner Sollors sei einer, der „die Menschen zusammenbringt”, sagte Faisst, und der gut besuchte Vortrag bewies es: Studierende und Wissenschaftler*innen der Universität Regensburg erlebten gemeinsam mit Mitgliedern des Regensburg European American Forum REAF, des Präsidiums der Universität Regensburg und Amerika-Freund*innen verschiedener Fakultäten einen ebenso pointierten wie wissensgesättigten Vortrag des international bekannten Literaturwissenschaftlers. Werner Sollors reflektierte darüber, wie die Adaptionen von und die Auseinandersetzung mit Goethes Werken, Ideen und Maximen das Oeuvre von Schriftstellerinnen und Journalisten, Künstlern und Schauspielerinnen des Black America beeinflussten.

Prof. Dr. Dr. h. c. Werner Sollors an der Universität Regensburg. Foto: Bastian Schmidt/UR

Der Beginn amerikanischer Literatur

Literaturwissenschaftler Sollors lädt sein Publikum in der Vortragsankündigung in den Magdeburger Dom ein, wo sich sowohl Johann Wolfgang von Goethe als auch Henri Grégoire im Sommer 1805 aufhielten. Hätten sie sich dort vor der heute berühmte Statue des schwarzen Heiligen Mauritius aus dem 13. Jahrhundert getroffen – was hätten der deutsche Universalist Goethe, der die Idee der "Weltliteratur" vertrat, und der französische Bischof und Politiker Henri Grégoire, der sich für die Abschaffung der Sklaverei einsetzte, der später die so genannten "Black Studies" begründete und der das bahnbrechende Buch "De la littérature des Nègres" schrieb, einander wohl erzählt?

Sie hätten über "The Power of Sympathy: or, The Triumph of Nature" von William Hill Brown 1789 verfasst, sprechen können. Das Buch gilt als erster amerikanischer Roman. Er handelt von den Gefahren der Verführung, von den Fallstricken der Leidenschaften und dem tragischen Ende, ergibt man sich ihnen: Browns Protagonist Harrington ist einer der Geblendeten, in der Konsequenz erschießt er sich. Auf dem Tisch neben dem Toten liegt ein Buch: „Die Leiden des jungen Werthers“, Johann Wolfgang von Goethes Sturm-und-Drang-Epos von 1744. So begann Amerikanische Literatur mit Johann Wolfgang von Goethe, sagt der ungeheuer belesene Sollors, der sein Publikum sichtlich beeindruckt und mühelos beweist: Goethe versorgte viele im Black America mit kreativen und spirituellen Impulsen.

America, You’ve Got It Better?

Werther, Wilhelm Meister und Faust genießen schon Ende des 18., Anfang des 19. Jahrhunderts hohe Popularität in Amerika. Sogar in „Joy of Cooking”, der Bibel unter den amerikanischen Kochbüchern, wachte Faust über Familienrezepte. Über viele Auflagen hinweg erhielt sich auf den ersten Seiten das literarische Motto: “Was du ererbt von deinen Vätern hast, erwirb es, um es zu besitzen”.  (“That which thy fathers have bequeathed to thee, earn it anew if thou wouldst possess it.”) Goethes Rezeption in Amerika, darauf wird Sollors zurückkommen, ist intensiv und vielfältig. Umgekehrt war es aber wohl doch nicht dramatisch viel, was Goethe über das Land wusste, dem er zuschrieb, es habe es besser – sei es doch ohne ruinöse Schlösser und alten Basalt, ohne unnützes Erinnern und vergeblichen Streit…

Im Alter von 17 Jahren setzt sich der spätere Weltliterat intensiv mit der tragischen Liebesgeschichte von Inkle and Yarico auseinander, die das Wochenmagazin The Spectator 1711 veröffentlichte – eine Geschichte, die bis in die postkoloniale Zeit hinein immer wieder neu adaptiert und dramatisiert werden wird. Sie ist nur anfänglich romantisch. Ein in der Karibik schiffbrüchiger britischer Kaufmann wird von der indigenen Afrikanerin Yarico gerettet. Nach drei Monaten Affäre verkauft der wenig Edle die Frau auf Barbados in die Sklaverei, erhöht gar noch ihren Preis, als er erfährt, dass sie von ihm schwanger ist. Die Narrative von Unterdrückung und Sklaverei mochten Goethe wohl doch zum Nachdenken angeregt haben. Wenigstens gestehen ihm das zahlreiche Schwarze Intellektuelle Ende des 19., Anfang des 20. Jahrhunderts zu, die von der sentimentalen Verklärung der Sklavenhalterzeit genug haben. Sie hören und artikulieren die Stimmen der afroamerikanischen Arbeiter und Mittelschicht im Kampf um Bürgerrechte.

Familiarity and Flippancy of Mephistopheles

Charles W. Chesnutt (1858-1932) gehört zu ihnen, Enkel eines weißen Sklavenhalters. Letzterer hatte eine Beziehung zu einer Sklavin, aus der Chesnutts Vater hervorging. Chesnutt schrieb die ersten Black American Short Stories und war politischer Aktivist. Er lernte Deutsch, las den Faust, war erstaunt „über die Vertrautheit und Leichtfertigkeit von Mephistopheles in seinem Gespräch mit dem Herrn im ‚Prolog im Himmel‘, aber mein Lehrer erklärte dies damit, dass Goethe selbst ein Ungläubiger war, mit wenig Achtung vor heiligen Dingen…“. Oder der einflussreiche Philosoph Alain LeRoy Locke (1885 - 1954): „Auf den Seiten Goethes wimmelt es von Problemen der Menschheit. Die Wirklichkeit des Lebens war die Quelle seiner Dichtung, er stürzt sich in den Strudel der Gedanken der Welt und hinterlässt in Faust das Symbol seines Kampfes.“ 

Locke gilt als Vater der Harlem Renaissance. Ihr schloss sich Zora Neale Hurston (1891–1960), Autorin und Filmemacherin an (“How It Feels To Be Colored Me,” 1928), die sich damit auseinandersetzt, wie afroamerikanische und karibische Folklore zur Identität in den jeweiligen Communities beitrug. Sie liest Goethe ebenso wie der Dichter und Essayist Robert Hayden (1930–1980) oder Melvin Tolson (1888–1966), der 1953 “More Licht – for the Africa-To-Be” fordert. Sollors berichtet vom internationalen Goethe Bicentennial, in Aspen, Colorado, im Jahr 1949, das den Anspruch hat, „interracial“ zu sein. Die berühmte Sopranistin Dorothy Maynor, Gründerin der Harlem School of the Arts, darf zwar zur Eröffnung singen, muss dann aber doch bei Event-Sponsoren nächtigen, weil das Hotel sie nicht aufnehmen möchte.

Prof. Dr. Dr. h. c. Werner Sollors mit Vertreter*innen der Regensburger American Studies mit u. a.  (v. r.) Universitätspräsident Prof. Dr. Udo Hebel, REAF Managing Director Dr. Birgit Hebel-Bauridl und Prof. Dr. Julia Faisst. Foto: Bastian Schmidt/UR

The Black American Gretchen

Dann nimmt Sollors das Publikum mit auf die Bühne. Ins Theater La MaMa in New York, das ab 1961 unterrepräsentierten Künstler*innen auf Manhattans Lower East Side den kreativen Freiraum einer experimentellen Bühne ohne kommerziellen Druck bietet. Fritz Bennewitz vom Deutschen Nationaltheater Weimar bringt dort im Mai 1978 den „Faust I“ auf die Bühne. Christine Campbell spielt das erste Black American Gretchen. Das Theatre Intime der Princeton University übernimmt die Inszenierung im darauffolgenden Oktober. Gretchen’s Ruh ist hin. Sollors zeigt seltene Aufnahmen der Inszenierung, anschließend legt er Billie Holiday (I’m a Fool to Want You) auf, lässt Jessye Norman den “Erlkönig” in der Übersetzung Paul Laurence Dunbars “The Haunted Oak“ aus dem Jahr 1900 besingen.

Sollors verweilt aber nicht nur bei künstlerischen Adaptionen. Auch auf die Rezeption Goethes als „Lebensmodell“ ist er immer wieder gestoßen. Der Literaturwissenschaftler berichtet von der Wirkung Wilhelm Meisters auf Jean Toomer (1894-1967), einen der großen Autoren der Harlem Renaissance, der sich der lebenslangen Suche nach innerem Frieden verschreibt und Identität als universell, nicht als „rassisch“ bedingt begreift. Er berichtet vom jamaikanisch-amerikanischen Autor und Aktivisten Claude McKay (1889–1948), der auf dem College Bekanntschaft mit W. E. B. Du Bois macht. „Zwei Seelen wohnen ach in meiner Brust”, zitiert Du Bois Goethe in „The Souls of Black Folk“, „…an American, a Negro: two souls, two thoughts, two unreconciled strivings “. Du Bois’ Botschaft ist eindeutig: "The problem of the twentieth century is the problem of the color line". Der Blick von außen hat Du Bois Wahrnehmung geschärft, er reist durch Europa, studiert in Berlin, trifft Max Weber. 1909 wird er zu einem der Mitbegründer der National Association for the Advancement of Colored People (NAACP).

Versmaße, Schattenrisse

Mit dem Blick auf zwei zeitgenössische Künstlerinnen endet Sollors seinen kurzweiligen Vortrag:  Eine ist die Autorin Rita Dove, geboren 1952. Als erste afroamerikanische Autorin wird sie von 1993 bis 1995 Poet Laureate Consultant in Poetry to the Library of Congress. Dove hat ihren Weg zu Goethe über den gemeinsamen Geburtstag am 28. August gefunden, verehrt ihn: “I’ve given up trying to explain to friends how perfect the original is – they way the rhymes slip so quietly in their rightful places…”.

Des Vortragenden Coda bilden die Schattenrisse der 1969 geborenen Künstlerin Kara Walker. Sie kreiert raumfüllende Tableaus, präsentiert historische Geschichten, die von Sexualität, Gewalt und Unterwerfung zeugen, mit Hilfe der im 18. Jahrhundert vornehmen Scherenschnittkunst. Walkers Kompositionen spielen im amerikanischen Süden, vor dem Bürgerkrieg. Sie porträtiert das Leben auf den Plantagen, Herrscher, Herrinnen, Sklaven, Frauen und Kinder – manchmal stereotyp, manchmal grotesk, eine umgekehrte Version der Vergangenheit, entlang der „color line“.

Deutlich wird: Goethes Werk und Worte inspirierten viele Intellektuelle des Black America. „His words provided an invitation for new creativity“, resümiert Sollors, trugen zu einem kulturellen Pluralismus in den USA bei und bereicherten den Diskurs zwischen Schwarz und Weiß. Allerdings: Schwarze Reaktionen oder auch nur die kürzesten Kommentare zu „Amerika, Du hast es besser“ – sie habe er nirgendwo gefunden.

twa.

Informationen/Kontakt

Werner Sollors wurde in Schlesien geboren, wuchs bei Frankfurt am Main auf und studierte in Berlin, wo er mit einer Studie zu dem Lyriker LeRoi Jones (Amiri Baraka) im Jahr 1975 an der Freien Universität Berlin promoviert wurde. Seine internationale akademische Karriere verbrachte er größtenteils in den Vereinigten Staaten von Amerika. Er lehrte über 30 Jahre an der Harvard University, wo er die Afro-American Studies, History of American Civilization, und Ethnic Studies leitete; davor war er an der Columbia University tätig. Forschung und Lehre führten ihn unter anderem auch an die italienische Università degli Studi di Venezia, Cà Foscari, und an die New York University Abu Dhabi in den Vereinigten Arabischen Emiraten. Neben der ihm 2017 verliehenen Ehrendoktorwürde der Universität Regensburg hält Sollors einen weiteren Doctor honoris causa der Universitatea de Vest din Timișoara, Rumänien. Der Wissenschaftler erhielt zahlreiche Auszeichnungen und Fellowships und ist Mitglied der Österreichischen Akademie der Wissenschaften, der Bayerischen Amerika-Akademie, der American Academy of Arts and Sciences und der Academia Europaea. Den aktuellen Forschungsaustausch mit den Regensburg American Studies und Sollors‘ Gastvortrag an der UR ermöglichte die Universitätsstiftung Hans Vielberth.

Zu Werner Sollors

Zahlreiche Hinweise auf Sollors‘ Studien und Vita finden sich auf den Seiten des REAF – Regensburg European American Forum

Über Regensburgs American Studies

Über die Universitätsstiftung Hans Vielberth

Kommunikation & Marketing

 

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