Wir mögen im Zeitalter der Individualisierung leben. Dennoch sind Kollektive allgegenwärtig. Sie treten als unfreiwillige Schicksalskollektive oder selbst gewählte Interessenskollektive auf. Mein Geschlecht, meine Generation, meine Familie und Nationalität konnte ich mir nicht aussuchen, wohl aber meinen Freundeskreis und meine Mitgliedschaft im Fußballclub sowie meine Teilnehme an sozialen Bewegungen (fridays for future).
Unsere Aktivitäten und unseren sozialen Status teilen wir mit vielen anderen Menschen. Daraus entstehen Kollektive wie Vegetarier, Golfspieler, Akademiker, Handwerker, Kommunisten. Sie zeichnen sich durch bestimmte Praktiken, Kulturen, Werte und Weltsichten aus. Aber keines allein bestimmt meine Identität als Individuum: Da ich vielen Kollektiven angehöre, wird sie durch meine Mehrfachmitgliedschaften (Multikollektivität) bestimmt. Und all die mehrfachzugehörigen Individuen verbinden und vermischen die kollektiven Praktiken, Kulturen, Werte und Weltsichten. Dieser kollektive Reichtum, der hergebrachte Grenzziehungen wie die zwischen Ethnien oder Nationen durchschreitet und überwindet, wird oft aus den Augen verloren, und der bei uns ankommende Geflüchtete wird nur als „fremd“ und Syrer wahrgenommen.
Kollektive entstehen durch einerseits echte Gemeinsamkeiten, die aber andererseits durch behauptete Zuschreibungen ergänzt werden. Dass ich „Deutscher“ bin, zeigt mein Pass, doch er verbürgt nicht meine Pünktlichkeit. Solche wiederkehrende Zuschreibungen stellen Pauschalurteile dar, deren bekannteste Form Stereotypen sind. Sie werden häufig diskriminierend eingesetzt. Pauschalurteile gestalten unseren Erkenntnisalltag und sind sozial wirksam. Es liegt an ihnen, dass ich als jugendlicher Fahranfänger höhere Kfz-Steuer bezahle, dass mir der Türsteher den Zutritt zur Disco verweigert oder ich nicht zum Vorstellungsgespräch eingeladen werde. Pauschalurteile, Stereotypen und die übergreifenden Phänomene, zu denen sie gehören – z.B. Sexismus, Rassismus und Nationalismus –, sind Zentralthemen der Kollektivwissenschaft.
Die neue Wissenschaft ist zwischen Kulturwissenschaften und Soziologie anzusiedeln. Sie behandelt Kollektive als Kulturträger. Sie beschäftigt sich mit den verschiedenen Formen von Kollektivität, mit den Komponenten, aus denen sie besteht, und mit der Art und Weise, wie Kollektive strukturiert, miteinander verbunden oder gegeneinander abgegrenzt sind, konkurrieren oder kollaborieren.
Das Studium der Kollektivwissenschaft fördert den Erwerb von grundlegenden Analysekompetenzen sowohl was das alltägliche Zusammenleben als auch die Bestimmung sozialer Phänomene betrifft. Im Rahmen des "Frei Kombinierbaren Nebenfachs (FKN)" besteht die Studieneinheit Kollektivwissenschaft aus einem Modul (KOLL-FKN 01) mit zwei Veranstaltungen (Vorlesung, Seminar). Sie ermöglicht einen ersten Einstieg in die Kollektivwissenschaft: in ihre Grundlagen (Vorlesung) einerseits und die Analyse von bestimmten Arten und Formen von Kollektivität (Seminar) andererseits.
Hier finden Sie die Modulbeschreibung Studieneinheit "Kollektivwissenschaft" (KOLL-FKN 01).
Auf dieses Modul bzw. seine Teilmodule sind im Sommersemester 2022 folgende Lehrveranstaltungen anrechenbar:
KOLL-FKN 01.1 und 01.2