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Aktuelle Meldungen aus der Forschung an der UR

Duties of Civility?

Internationale Tagung zu John Rawls‘ Demokratietheorie und ihrer Bedeutsamkeit im digitalen Zeitalter an der Universität Regensburg


16. April 2024

Hate Speech, Astroturfing, Silencing: Hassreden, inszenierte Bürgerbewegungen, extreme Gruppen, die öffentliche Foren lenken: Sie bringen die liberalen Demokratien in Gefahr. Wer, was kann sie retten? Lässt sich der Ratlosigkeit vielleicht mit einem der großen Denker des 20. Jahrhunderts, John Rawls, begegnen? In einer hochkarätig besetzten internationalen Tagung Mitte März an der Universität Regensburg (UR) haben Professorin Dr. Eva Helene Odzuck, Inhaberin des Lehrstuhls für Politische Philosophie, Theorie und Ideengeschichte und Dr. Sarah Rebecca Strömel, Akademische Rätin, John Rawls‘ Demokratietheorie gemeinsam mit Professor Dr. Daniel Eggers, Lehrstuhl für Geschichte der Philosophie, zurück ins Gespräch geholt. Das Ziel: Mit Schüler*innen von Rawls und (Early-Career-)Wissenschaftler*innen aus Europa und den USA eine tiefere, reichhaltigere Problemdiagnose der aktuellen liberalen Demokratien zu entwickeln und gemeinsam über Lösungsansätze für die unter digitalen Bedingungen oft polarisierten, radikalisierten, versteinerten Debatten nachzudenken.

Bei der Rawls-Tagung am Lehrstuhl für Politische Philosophie, Theorie und Ideengeschichte der Universität Regensburg im März 2024. Foto: Wagensohn/UR

Es geht eigentlich um ganz elementare Dinge. Wie sprechen wir miteinander? Was ist fair? Was ist respektvoll? Rawls hat sich mit diesen Themen auseinandergesetzt, und in Zeiten global präsenter autoritärer Machthaber und einer Mainpulation und Verrohung des öffentlichen Diskurses sind diese Fragen aktueller denn je. „Gerade weil wir gegenwärtig eine Verrohung des Diskurses, ein Ansteigen von Gewalt und gewaltförmiger Sprache feststellen, erschien es uns sinnvoll, sich neu und wieder mit einem Denker auseinanderzusetzen, der sich über die ‚Zivilitätsdimension‘, über die Frage, was es heißt, Bürger zu sein, intensive Gedanken gemacht hat“, erläutert Odzuck, die am Institut für Politikwissenschaft der UR schwerpunktmäßig zu Demokratietheorien forscht und lehrt. „Was heißt Bürgerlichkeit überhaupt? Was ist Zivilität? Was heißt es, als Bürger eine zivile Debattenkultur zu pflegen?“

Zu den Zielen der Tagung gehört, begrifflich nachzuschärfen und zu fragen, warum ein bestimmter Sprachgebrauch und ein bestimmter Modus der öffentlichen Rede essenziell für Bürger*innen liberaler Demokratien ist – „und zu fragen, wie gutes, ziviles öffentliches Sprechen im konkreten Einzelfall aussehen kann und wie einer Deformation begegnet werden kann“, sagt Odzuck.

Pluralismus ist anspruchsvoll und zumutungsreich

John Rawls hat sich viele Gedanken über diese Fragen gemacht, nicht zuletzt über hochgradig verschiedene Weltanschauungen, die in liberalen Demokratien parallel friedlich koexistieren können. Die Frage ist, wie geht man mit diesem anspruchsvollen, zuweilen auch zumutungsreichen Pluralismus um? Wollte man ihn denen entziehen, die ihn ausnutzen, um Hass und Gewalt zu säen, ist das im digitalen Zeitalter problematischer denn je. Für Rawls muss jede Art von Freiheitseinschränkung gerechtfertigt sein, begründet werden. Er sieht es als bürgerliche Pflicht an, zu versuchen, Dinge, die alle Menschen betreffen, mit Normen zu begründen, denen alle gemeinsam zustimmen könnten. Dem liegt Rawls‘ Verständnis von Gerechtigkeit zugrunde, für ihn die maßgebliche Tugend aller sozialer Institutionen, die aber mit der Freiheit des Einzelnen im Einklang stehen muss. Dahinter steht immer die Frage, für welche Gerechtigkeitsgrundsätze sich freie und vernünftige (reasonable) Menschen in einer fairen und gleichen Ausgangssituation in ihrem eigenen Interesse entscheiden würden.

Bei der Tagung im Haus der Begegnung sprachen unter anderem die Rawls-Schüler*innen Paul Weithman (Glynn Family Honors Professor, Department of Philosophy, University of Notre Dame) und S. A. Lloyd (Professor of Philosophy and Law, University of Southern California, Dornsife), die in ihren Keynotes tiefe theoretische Einblicke in ihre Gedankenwelt und die Weiterentwicklung Rawlsscher Begriffe geben. Bachelor- und Masterstudierende der UR waren an den drei Konferenztagen ebenfalls dabei. Sarah Strömel, Postdoc am Lehrstuhl von Odzuck, war die Mischung aus „Jungen“ und „Etablierten“ bei der Tagung ein großes Anliegen. Gerade auch Studierende sollen sich engagieren, wenn es um die aktuelle Relevanz der Rawlsschen Konzepte heute geht. Aber wie lassen sich diese Konzepte nutzen, um aktuelle Herausforderungen zu verstehen?

Cultural Turn – mehr digitale Bildung

In einem der Konferenz-Workshops, moderiert von Co-Veranstalter Professor Dr.  Daniel Eggers reißt Julian Culp (Associate Professor, for Philosophy, The American University of Paris), die Schwierigkeiten an, die im Übergang von massenmedialer zu digitaler Kommunikationsumgebung entstanden sind, erinnert an Fake News und Echo Chambers. Waren es „früher“ vor allem wirtschaftliche, politische, kulturelle und akademische Eliten, die über redaktionell kuratierte Medien wie Radio, Fernsehen oder Zeitung öffentlich debattierten und damit Debatten auch kanalisierten, hat diese „Eins-zu-Viele-Kommunikation“ sich in eine „Viele-zu-Viele-Kommunikation“ gewandelt. Praktisch alle können redaktionelles Gatekeeping umgehen und ihre Ansichten auf Social-Media-Plattformen veröffentlichen. Culp wünscht sich einen „cultural turn in digital citizenship education“ – nicht alles dürfe ausschließlich von den technischen Kompetenzen oder Möglichkeiten einzelner beim Nutzen Sozialer Medien abhängen.

Sind die öffentlich privaten“ und „privat öffentlichen“ Bürger*innen sich der Reichweite dieser Tatsache bewusst? Das Ideal des demokratischen Bürgers, der bereit ist, sich mit fundamentalen politischen Inhalten im Sinne von Freiheit und Gleichheit auseinanderzusetzen, und zwar vernunftbegabt (reasonable) und rational – eventuell findet man diesen Bürger in den Sozialen Medien nicht häufig genug. Und die Dinge gehen viel weiter, als manche annehmen möchten. Strömel, die Culps Paper in einem der Konferenz-Workshops kommentiert, deutet weitere große Herausforderungen an: radikale Demokratietheorien erfreuen sich in der politischen Theorie derzeit einer gewissen Beliebtheit und setzen anstelle eines vernunftbegabten, rationalen Bürgers einen leidenschaftsdominierten Bürger, der seine Position im politischen Raum gegen seinen politischen Gegner durchsetzt.

Folgt man diesem agonalen Verständnis von Demokratie, müsste man den rauen Umgangston in den sozialen Medien nicht nur tolerieren, man könnte ihm im Sinne einer auf Partizipation basierenden Demokratie sogar noch etwas abgewinnen. Es kommt also alles auf den Maßstab an bei der Gegenwartsdiagnose, so Odzuck, weshalb die internationale Tagung als Alternative zum Trend radikaler Demokratietheorien bewusst den Maßstab rekonstruieren, anwenden und evaluieren möchte, der Rawls‘ deliberativer Demokratietheorie zugrunde liegt.

Duty of Pressure?

Gabriele Badano (Department of Politics and International Relations, University of York) fordert vor dem Hintergrund rechtspopulistischer Strömungen die „liberal-demokratische Selbstverteidigung“. Badano fordert containment, Eindämmung, will, dass staatliche Maßnahmen die Ausbreitung gefährlicher Tendenzen verhindern. Wie weit kann die bewusste Unterscheidung von „reasonable“ und „unreasonable views“ Staaten tatsächlich helfen, sich illiberaler und antidemokratischer Tendenzen auf ihrem Boden, inmitten ihrer Gesellschaft zu erwehren?

Nutzen Bildung und sozio-ökonomische Maßnahmen? Was passiert, wenn das normative Konzept der liberalen Demokratie nicht mehr Maßstab des Handelns der staatlichen Akteure ist? Badano fordert vom Bürger, Druck zu machen, schlägt „Duty of Pressure“ vor und reflektiert mit dem Plenum individuelles Engagement und seine Forderung, die Einzelnen sollen im Diskurs mit Familie, Freundes-undBekanntenkreis aufstehen, nicht zuletzt posten, wenn ihnen unvernünftige Ansichten begegnen.

Der Wunsch, einzuordnen

Valentina Gentile (Libera Università Internazionale degli Studi Sociali, Rom) diskutiert dreierlei Dimensionen von Rawls‘ Civility-Begriff. Der Kommentar von Aurélia Bardon (Juniorprofessorin für politische Theorie, Universität Konstanz) und die sich anschließende Diskussion streifen moralische, psychologische, legale Dimensionen und Bedingungen. Die Philosophinnen diskutieren Gerichtsurteile in den US-amerikanischen Südstaaten zum Thema Abtreibung. Sie zeigen auf, wie schwierig sich manches einordnen lässt – und wie sehr wir uns Einordnungen wünschen.

Ein Resümee zur Tagung? Odzuck ist überzeugt, dass Politikwissenschaft Politik und Demokratie nicht nur als neutralen Gegenstandsbereich, sondern auch als Verantwortungs- und Gestaltungsaufgabe begreifen muss und daher zur Diagnose der Gegenwart und zum Verständnis von Gestaltungsoptionen beitragen muss. In der Rawls-Tagung sieht sie einen Beitrag zum besseren Verständnis theoretischer Grundlagen und aktueller Herausforderungen liberaler Demokratien. „Dass wir keine Lösung aus dem Hut zaubern können, ist uns klar. Unser Ziel, zu zeigen, dass die deliberative Demokratietheorie von John Rawls für das Verständnis der Gegenwart relevant ist und wertvolle Ressourcen für Problemdiagnosen und Lösungsansätze bereit hält haben wir erreicht.“

twa.

Informationen/Kontakt

Die Regensburger Universitätsstiftung Hans Vielberth und die Fritz Thyssen Stiftung förderten die Konferenz.

Zum UR-Lehrstuhl für Politische Philosophie, Theorie und Ideengeschichte

Zum UR-Lehrstuhl für Geschichte der Philosophie

Zu den Videostatements von Professorin Dr. S. A. Lloyd und Professor Dr. Paul Weithmann  im Podcast „Säulen der Demokratie“

Im Sommersemester 2024 geht es weiter mit der Erforschung der theoretischen Grundlagen und aktuellen Herausforderungen liberaler Demokratien im Rahmen einer öffentlichen Ringvorlesung mit vier spannenden externen Referent*innen:

Im Juni 2024 findet die nächste internationale Tagung des Lehrstuhls für Politische Philosophie, Theorie und Ideengeschichte statt, in der ideengeschichtliche Ressourcen für das Verständnis und die Weiterentwicklung der Debattenkultur liberaler Demokratien untersucht und diskutiert werden.

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