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Vormoderne Metropolen als Konflikt- und Möglichkeitsraum

Der doppelte Impuls von Innovation und Disziplinierung, kultureller Pluralität und sozialen Konflikten ist ein überzeitliches Kennzeichen von Metropolität. Schwentker (2006, 15) spricht vom „Janusgesicht der meisten Megastädte“ und von „wirtschaftlicher und sozialer Modernisierung auf der einen Seite“ und vom „chaotischen und grausamen Moloch, charakterisiert durch Armut, Kriminalität und Fragmentierung auf der anderen“. Im Beobachtungsfeld des literarischen Diskurses zeitigen diese ‚negativen‘ Aspekte der Metropolität beispielsweise auch satirische Spiegelungen der metropolitanen Geltungsansprüche im frühneuzeitlichen Londoner Drama, sowie Geltungskämpfe im – einigen Beobachtern zu inklusiv werdenden – Bildungssystem des Londoner Späthumanismus (Projekt Nr. 4). Oftmals sind diese Phänomene einzig im literarischen Diskurs fassbar, etwa wenn die sozialen Konflikte und ökonomischen Spannungen um die Kontrolle des metropolitanen öffentlichen Raumes im kaiserzeitlichen Rom in den politischen Diskurs um den guten oder schlechten Herrscher verlagert und dann in den Metaphern der alten Republik ausgetragen und damit historisiert werden. Die Untersuchung von politischen Krisendiskursen kann daher in vielen Fällen auch als Aspekt von Metropolitätsdiskursen gedeutet werden.

Die immensen Migrationsbewegungen, die die Grundlage des schnellen Wachstums der meisten Metropolen darstellten, gehen mit der Auflösung traditioneller dorfähnlicher Sozialstrukturen in Stadtvierteln, Straßenzügen und Nachbarschaften einher. Steigende Kriminalität war eine der unvermeidlichen Folgen des Metropolisierungsprozesses. In Paris führte die starke Immigration seit der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts zu intensiven normativen und polizeilichen Anstrengungen seitens der zuständigen Amtsträger. Doch bot die größer werdende Stadt nach der einschlägigen Studie von B. Geremek nicht nur Handeltreibenden, sondern auch Kriminellen beste Entfaltungschancen: „Vigilance was inevitably less strict and less effective, and life in the great metropolis provided greater possibilities for profit, as well as more opportunities for crime“ (Geremek 1987: 7; vgl. Brendecke 2018). Auf diesem Feld ist eine Zusammenarbeit mit dem neuen SFB 1369 „Vigilanzkulturen. Transformationen – Räume – Techniken“ (LMU München), insbesondere mit dem Teilprojekt B03 „Der Einsatz der Sinne. Wachsamkeit in frühneuzeitlichen Städten“ (A. Brendecke), vorgesehen, in welchem die Vulnerabilität vormoderner Metropolen (Augsburg, Florenz, Sevilla) mit der Steigerung und Steuerung von Sinneswahrnehmungen gemeinsam betrachtet wird.
Metropolen zeichnen sich daher zugleich durch die Akkumulation von Machtstrukturen, durch erhebliche Konfliktpotenziale und innovative Konfliktlösungsstrategien aus (vgl. Hochmuth/Rau 2006 und zuletzt Priebs 2011). Ob als antikes Provinzzentrum, mittelalterlicher Königssitz oder frühneuzeitliche Residenz eines Fürstenhofes – die Zentralisierung politischer, administrativer und rechtlicher Strukturen in einzelnen Städten bildet in der Vormoderne in aller Regel einen entscheidenden Standortvorteil im Prozess der Urbanisierung, der zur Hierarchisierung innerhalb des regionalen, nationalen oder ‚internationalen‘ Städtenetzes beiträgt, die sich oft auch in den kirchlichen Strukturen spiegelt (Merkt 2019). In metropolitanen Zentren der Antike und dann verstärkt des Spätmittelalters und der Frühen Neuzeit belebt das explosive demographische Anwachsen, verbunden mit der politischen Instrumentalisierung der breiten städtischen Bevölkerung (etwa der stadtrömischen plebs) und den konkurrierenden Partizipationsansprüchen ihrer Eliten, die Suche nach Praktiken zur Bewahrung der öffentlichen Ordnung und zur Vermeidung von Konflikten (zur stärkeren Regulierung von Sicherheitsstrukturen vgl. Kelly 2013; zur Stadtrechtspraxis B. Frenz 2003; zu Praktiken der Friedensstiftung Gonthier 1992; zur Kriminalität Schwerhoff 1991). Die Fragmentierung der metropolitanen Großbevölkerung in der rechtlichen und politischen Praxis in Stadtteile, Gerichtsbezirke, kirchliche Sprengel, Nachbarschaften u.a. bedingt dabei auf der anderen Seite symbolische und pragmatische Formen zentraler Herrschaft (z.B. die königliche Appellationsgerichtsbarkeit im spätmittelalterlichen Pariser Rechtsraum) und einheitsstiftender Ereignisse (z.B. Volksversammlungen), die dem Selbstbild der Metropole als Ganzes entsprechen. Das metropolitane Rechtssystem setzt aber auch ein erhöhtes Konfliktpotenzial frei: Metropolen sind stets Orte, an denen verschiedene Rechte und Gerichtsbarkeiten miteinander um Zuständigkeiten konkurrieren, vor allem geistliches und weltliches Recht und die jeweils zugehörigen Gerichte, aber auch verschiedene Schichten weltlichen Rechts und verschiedene weltliche Gerichte. Diese Zustände einer jurisdictional complexity oder hybridity sind allzu lang nicht in den Blick einer modernen Rechtsgeschichte genommen worden. Wie wurde diese Konkurrenz in Metropolen gelebt? Konnte es Metropolen gelingen, die jurisdictional complexity durch eine Zentralisierung von Recht und Rechtsprechung zu beseitigen und gegebenenfalls wie? (vgl. dazu Donlan/Heirbaut 2015). 

In einem Überblick über qualitative Definitionsangebote der Metropolitan Studies, die für das 19.21. Jahrhundert Geltung beanspruchen, hebt Reif als fünftes und letztes Kriterium die gesteigerten sozialen Handlungsoptionen hervor: „Metropolen kreieren auf Grund ihrer schieren Größe und hohen Dichte mehr Handlungs- und Lebensmöglichkeiten für Einzelne wie Gruppen, mehr Möglichkeiten der sozialen Konstituierung und Durchsetzung gesellschaftlicher Akzeptanz für Minderheiten, mehr, und genuin metropolitane Möglichkeiten des Erfolges wie des Scheiterns, der Inklusion wie Exklusion, der Innovation wie der traditionalen Rückbindung“ (Reif 2006: 2f.). Das Kriterium scheint deutlich mit modernen Erfahrungen von und Bedürfnissen nach individuellen Freiheiten und Selbstverwirklichungsmöglichkeiten zu korrelieren. In einem aktuellen Beitrag in der Wochenzeitschrift „Die Zeit“ verweist der Autor des Beitrags auf die soziale Gruppe „kulturell gebildeter Großstadtbewohner“, denen es um „Selbstverwirklichung, Nonkonformismus und Individualität“ gehe (R. Pausch, Die Zeit 28/2020: 7). Dennoch begegnet uns der großstädtische Möglichkeitsraum bereits in einem Paris-Text des späten Mittelalters. Um 1320 wird der Philosoph Jean de Jandun aus Paris vertrieben. Aus dem Exil widmet er Paris eine lange Eloge, die in dem schönen Satz gipfelt, nur als Bewohner von Paris habe man eine Existenz im absoluten Sinne, woanders allenfalls eine beschränkte (Opinor te confiteri quod esse Parisius est esse simpliciter; esse alibi non nisi secundum quid) [Jean de Jandun, Tractatus de laudibus Parisius, Paris 1867: 74].

Damit dürfte der Gelehrte auf Ovid, Epistulae ex Ponto anspielen, insbesondere 1, 8, 20-40. Hier beklagt der ans Schwarze Meer verbannte Dichter, dass man ihn von den urbanae commoda vitae ausgeschlossen habe, von den „Plätzen der herrlichen Stadt“, konkret den Märkten, Tempeln, marmorbedeckten Theatern, dem Marsfeld und den prächtigen Gärten, kurz von den „Wonnen der Großstadt“. Nicht zu bezweifeln ist, dass es sich hier um eine Ausnahme handelt und es dem mittelalterlichen Autor bei diesem Lob um die intellektuellen Entfaltungsmöglichkeiten an der Universitätsstadt Paris ging. Andererseits treffen wir bereits ein Jahrhundert früher, in der berühmten Paris-Beschreibung des Kardinals Jakob von Vitry, auf die Ambivalenz der großstädtischen ‚Angebote‘ und Lebensformen, wenn Jakob seine frühere Alma mater für ihre unerreichten theologischen Forschungen lobt, zugleich aber kritisch anmerkt, dass sich in vielen Studienhäusern Prostituierte und Gastwirte eingemietet hätten, die auf ihre Kundschaft warteten (Jacques de Vitry, Historia occidentalis, Fribourg 1972: 92). Die Idee der Metropole als eines gesteigerten Möglichkeitsraums kann also kaum – genauso wenig wie die übrigen Punkte des bei Reif genannten Katalogs metropolitaner Eigenschaften – als Alleinstellungsmerkmal der Moderne angesehen werden.

Besonders deutlich wird dies in der Gestaltung weiblicher Biographien. In der Antike war der urbane Raum der einzige Ort für Frauen, um Möglichkeiten außerhalb der ihnen zugedachten Rollen wahrzunehmen. Das lässt sich sehr plausibel im Kult nachvollziehen: Die von den Kaiserinnen des 1. Jh. n.Chr. ausgehenden Impulse – sie werden Priesterinnen (flaminicae) im Kult der vergöttlichten Kaiser in Rom – ermöglichen sowohl den Frauen des Herrscherhauses selbst als auch – nach ihrem Vorbild – den Frauen der provinzialen Elite in den Städten des Reiches neue Chancen der Selbstrepräsentation und eine Steigerung des familiären Prestiges über weibliche Familienmitglieder. Ansatzpunkte für Untersuchungen bieten beispielsweise Priesterinnen in den großen Metropolen der Provinz Asia, die in männliche Rang- und Ehrensysteme eingebunden oder familiär mit kultischen und politischen Funktionsträgern verschiedener Provinzen verbunden waren und damit auch transprovinziale Familiengefüge nachvollziehbar machen (vgl.

Hemelrijk/Woolf 2013; Edelmann-Singer 2014; dies. 2016).  
Die Forschung hat überdies schon länger auf die Erwerbschancen und Berufstätigkeit von Patrizierinnen und Handwerkerinnen in mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Städten hingewiesen. Die vier Kölner Frauenzünfte gelten als Muster- und Ausnahmefall, der mit der Bedeutung der Kölner Tuchproduktion und der Dimension der daran geknüpften Handelsnetzwerke Kölner Kaufleute zu erklären sei (vgl. Athenas 2016). Doch auch ohne die organisatorische Macht eigener Zünfte traten Frauen im städtischen oder metropolitanen Raum als erfolgreiche Händlerinnen, Unternehmerinnen, Geldwechslerinnen, Goldschmiedinnen und in vielen anderen Handwerken in Erscheinung, wie eindrucksvoll eine neuere Studie zu Pisa unterstreicht (Duval 2018). In den Listen der Pariser Kopfsteuer („Livres de la taille de Paris“), die aus den Jahren 1296 bis 1313 erhalten sind, beträgt der Anteil berufstätiger und steuerpflichtiger Frauen etwa 10% (Roux 1996 und neuerdings für die Frühneuzeit Castres 2020). Lokalforschungen aus vielen europäischen Regionen bestätigen diesen Eindruck, dass unter allgemein strengen Moralvorstellungen und Restriktionen Frauen in großen Städten von konventionellen Lebenswegen in häuslicher oder klösterlicher Klausur eher abweichen konnten, sei es als selbständige Unternehmerin, Begine oder Künstlerin (vgl. zu Beispielen aus Florenz De la Roncière 1990: 274-284).

Da gesellschaftliche Normdiskurse auf solche ‚Devianzen‘ reagieren, lässt sich durchaus ein zeitgenössisches Bewusstsein für die Folgen oder ‚Gefahren‘ des metropolitanen Möglichkeitsraums konstatieren: Der dominikanische Generalmagister Humbert de Romanis hat in der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts eine Sammlung von Modellpredigten ad status, d.h. an die unterschiedlichen Stände und Gruppen der zeitgenössischen Gesellschaft, hinterlassen. In dem breiten sozioprofessionellen Schema fällt eine Gruppe von Predigten an städtisches Publikum auf, die wiederum in ritterlich-kaufmännische Oberschichten, handwerkliche Mittelschichten und arme Unterschichten gegliedert sind. Nur bei den Oberschichten werden explizit die Ehefrauen reicher Kaufleute adressiert, denen in Humberts Schema die Zuständigkeit für Haus und Kinder sowie im öffentlichen Raum für Almosen und Armensorge zugesprochen wird (Oberste 2002). Die kirchlichen Vertreter und insbesondere die den urbanen Eliten nahe stehenden Mendikantenorden wiesen – wenig überraschend – den Frauen ihre traditionelle Rolle in Familie, Gesellschaft und Kirche zu. Ähnlich formulierten auch viele Stadtrechte im Kanon der „ehrbaren Ehefrau“ soziale Restriktionen (am Beispiel Hamburgs detailliert aufgezeigt von Rogge 1998), während literarische Texte die urbanen Möglichkeitsräume durchaus aufzunehmen und zu steigern wussten. Christines de Pizan „Livre de la Cité des dames“ (um 1405) spielt dabei mit den kulturellen und sozialen Innovationspotenzialen des Städtischen, aber auch mit ihren gesteigerten Abwehrmechanismen gegen Partizipationsansprüche marginalisierter Gruppen (zuletzt Delogu 2014). Dabei ist das gesamte Werk Christines von den sozialen Erfahrungen, mentalen Strukturen und kulturellen Reichtümern der beiden Metropolen Venedig und Paris geprägt (dazu die Dissertation von Bourassa 2014). Im frühneuzeitlichen London werden auch im Theater Fragen der beruflichen Handlungsmöglichkeiten und Geschlechterverhältnisse verhandelt (dazu Howard 2007).


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Metropolität in der Vormoderne

DFG-GRK 2337

Sprecher

Prof. Dr. Jörg Oberste

St-grk 2337
Wissenschaftl. Koordination

Dr. Arabella Cortese

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