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DaF - Theatergruppe Babylon - Aufführungen - 2022

"Astoria"

Eine utopische Unmöglichkeit in acht Bildern

von Jura Soyfer

im Theater an der Uni

von 5. bis 9. Juli 2022


Inhalt

Erstes Bild
Die Landstreicher Hupka und Pistoletti suchen für den Winter einen warmen Platz; Hupka möchte ins Gefängnis, um dort zu überwintern. Leider ist der Gendarm, dem er begegnet und von dem er sich verhaften lassen will, gut gelaunt und will ihn deswegen nicht mitnehmen. Hupka stellt sich vor, dass er einer Millionärin begegnet – und diese Begegnung findet dann auch statt. Die Gräfin Gwendolyn Buckelburg-Marasquino möchte einen Staat kaufen, um ihn ihrem Mann zum Geburtstag zu schenken, so dass er seine diplomatische Karriere fortsetzen kann. Hupka schlägt vor, ihn als Staatsbürger Nummer eins und als vorläufige Kostprobe für den Herrn Gemahl mitzunehmen.

Zweites Bild
Zum Geburtstag stellt sich Hupka als Staatsbürger bei dem Grafen vor und wird von ihm mit wirren Plänen zur Weltpolitik konfrontiert; Gwendolyn platzt in die Szene und erklärt, dass sie keinen Staat mehr kaufen kann, da sie bankrott ist. Hupka macht den Vorschlag, den fiktiven Staat Astoria ohne Volk und ohne Staatsgebiet zu gründen.

Drittes Bild
In der astorischen Botschaft in London wird eine Abendeinladung für die feine Gesellschaft gegeben. Es werden zwar Fragen nach der geografischen Lage von Astoria gestellt und einige Male wird die Lüge beinahe aufgedeckt, aber die Skepsis der Eingeladenen verschwindet und sie hören auf, an der Existenz des Staates zu zweifeln, nachdem sie vom Grafen Orden verliehen bekommen haben. Hupka ist in der Zwischenzeit Legationsrat des fiktiven Staates Astoria und hilft bei der Ausgestaltung dieser Lüge. Allerdings wird die Lage prekär, als die Stromrechnung nicht bezahlt werden kann, weil Gwendolyn kein Geld mehr hat, so dass die Szene im Dunkeln endet.

Viertes Bild
Vor der astorischen Botschaft in London frieren Hupkas Kollege Pistoletti und der junge Paul. Paul malt sich ein wunderschönes Leben in Astoria aus, während Pistoletti nicht mehr an solche Märchen glaubt und Arbeit suchen geht – fast ohne Hoffnung, welche zu finden. So ähnlich geht es auch Rosa, einem Straßenmädchen, das seinen Beruf nicht erträgt. Auch sie träumt sich in ein fiktives und idyllisches Astoria, während die erfahrenere Hortensia an diese Utopie nicht mehr glauben mag. Rosa und Paul träumen sich in das utopische Astoria, das auf den Antipoden liegt. Dort haben alle Arbeit und ein Auskommen und es gibt Platz für Beziehungen. Während Rosa noch weiterträumt, merkt Paul, dass sie zu der grauen und kalten Realität vor der astorischen Botschaft zurückkehren. Ausgerechnet der skeptische Pistoletti kommt aber dann mit einer Zeitung voller guter Nachrichten über das Leben in Astoria zurück. Das Bild endet damit, dass alle nach Astoria und zuerst einmal in die astorische Botschaft wollen.


Fünftes Bild
Mit verschiedenen Schikanen der Bürokratie versucht Hupka, der Menge an Einreisewilligen Herr zu werden – und zeigt dabei die Ungerechtigkeiten, die verfolgte und fliehende Menschen erleben. Er leidet zusehends unter den Taten, die er als astorischer Legationsrat vollbringen muss und richtet aus Verzweiflung einen ewigen Rundlauf von Schalter zu Schalter ein. Paul, der ihm seine Handlungen vorwirft, kann er mit dem Versprechen eines festen Jobs noch auf seine Seite ziehen. Er soll als Lakai in der astorischen Botschaft arbeiten – seine erste Arbeit ist auch, die anderen Einreisewilligen zu vertreiben. Pistoletti kann Hupka allerdings nicht beschwichtigen und bestechen, im Gegenteil schafft der es durch seinen unversöhnlichen Zorn, Hupka klar zu machen, was er geworden ist: Als Hupka auf die Idee kommt, mit dem eingenommenen Geld doch einen Staat für alle die Armen, Vertriebenen und Heimatlosen zu kaufen, lehnt Gwendolyn rigoros ab, weil sie das Geld, das sie mit dem Handel mit imaginärem Erdöl verdient hat, nicht für arme Leute ausgeben möchte. Als Hupka droht, den Schwindel platzen zu lassen, möchte Gwendolyn ihn verhaften lassen.

Sechstes Bild
Im Kaffeehaus erlebt man, wie die Journalisten Berichte über Astoria erfinden – und sich diese Fake News immer mehr verbreiten. Als Hupka versucht, die Nichtexistenz Astorias zu enthüllen, glaubt ihm niemand. Die Journalisten sagen ganz klar, dass sie nur die Informationen schreiben, die von den Leuten stammen, die auch Anzeigen bezahlt haben, und auch die armen Leute, die eigentlich auf ein gutes Leben in Astoria hoffen, möchten die Wahrheit nicht wissen, weil der Traum von Astoria ihre einzige Hoffnung ist.

Siebentes Bild
Es gibt eine Feier zu der Enthüllung eines Denkmals für den Staat Astoria. Bei dieser Feier möchte Hupka enthüllen, dass es dieses Land gar nicht gibt. Er unterbricht die Rede von James, dem Butler, der mit seiner demagogischen Rede zwar die Wahrheit sagt – Astoria existiert nicht – das aber rhetorisch so gut verpackt, dass die Zuhörer/innen es nicht bemerken und ihm begeistert zu jubeln. Hupka unterbricht mit seiner Enthüllung, wird aber nicht ernstgenommen und vertrieben.

Achtes Bild
Hupka, Paul und Pistoletti sind nach ihrem astorischen Abenteuer zurück auf der Landstraße. Während sie darüber nachdenken, was sie gelernt haben und wie sie die Geschehnisse anzuordnen haben, kommt der Gendarm vom Anfang vorbei. Diesmal ist er aber sehr schlechter Laune und verhaftet die Drei.


Interpretation

In einer internationalen Theatergruppe ein deutschsprachiges Stück zu erarbeiten, das ist immer ein sehr intensiver Texterschließungs- und Probenprozess, der für uns alle – Regie wie auch Schauspieler/innen – Schichten um Schichten und immer neue Aussageabsichten und Anknüpfungspunkte entdecken lässt. So ändert sich der Blick auf dieses Stück, so ändern sich Ausdruck und Ausstattung – und so ändert sich die Musik. Wenn man Glück hat, wird dieses Stück ein Teil der eigenen Gedankenwelt und ein Stück von einem selbst.
Warum haben wir uns dafür entschieden, den größten Teil eines Jahres mit diesem Stück zu verbringen? Zu einem verbindet Babylon mit Soyfer eine Geschichte: Im Jahre 2010 haben wir „Den Weltuntergang“ aufgeführt. Einen sehr ähnlichen Plot findet man in der NetFlix-Komödie „Don’t look up“ – nur ein kleiner Beweis dafür, wie unglaublich aktuell dieser ukrainisch-österreichische Schriftsteller aus den Dreißigern des letzten Jahrhunderts gerade ist. Bevor die Pandemie uns einen Strich durch die Theaterrechnung gemacht hat, wollten wir eigentlich „Broadway-Melodie 1492“ von Jura Soyfer aufführen – und wieder hat die Gegenwart mit dem Stürzen von Kolumbus-Statuen, der Pandemie, die gerade auch indigene Menschen hilflos zurückgelassen hat und dem BLM-Protest eine gerade zu beklemmende Aktualität in diesen Text gelegt.
Und jetzt Astoria: Warum dieses Stück, das auf einen realen Spaß zurückgeht? Gelangweilte Briten haben in den Dreißiger Jahren des letzten Jahrhunderts wirklich in der Botschaft des fiktiven Landes Astoria rauschende Feste gefeiert – und Soyfer hat über einen Zeitungsbericht von diesem Stoff erfahren und aus dem elaborierten Spaß der feinen Gesellschaft zugleich eine Dystopie mit utopischen Einsprengseln für alle die Verfolgten, Verzweifelten und Ohnmächtigen gemacht.
Er hat seinem Land Österreich und dessen rechten und rechtsradikalen Regierungen den Spiegel vorgehalten, die feine Gesellschaft in ihrer Dummheit und Oberflächlichkeit verlacht und er hat für die kleinen Leute einen kurzen Blick in das wirklich utopische Astoria beschrieben.
In dem Traum der kleinen Leute haben alle Arbeit – im letzten Jahrhundert wie auch im Jetzt - keine Selbstverständlichkeit – und zwar sichere und erfüllende Arbeit unter menschenwürdigen Bedingungen. Arbeit und ein Leben, mit dem man eine Zukunft planen kann. In diesem Astoria gibt es keinen Hunger und keine Schmerzen. Noch bezaubernder sind aber die Wünsche und Vorstellungen, die der junge Paul und das Straßenmädchen Rosa bei dieser Beschreibung dieses Landes äußern:
In Astoria sind im Winter die Straßen geheizt, dass die Obdachlosen nicht frieren. In Astoria saufen die Menschen nicht aus Unglück, sondern aus Glück. Weil in Astoria ist alles gratis. Sogar das Geld. Und die Mädeln tragen Sommerkleider…
Nicht mehr zu frieren und nichts zu verdrängen zu haben, sich keine Sorgen um materielle Not machen zu müssen – ja, und Mädchen in Sommerkleidern. Das sind Pauls Wünsche und das würde Astoria schon zum Paradies machen. Die Bescheidenheit dieser Träume, die nichts von Luxushandtaschen, Megayachten und Städte-Trips weiß, sollte uns daran erinnern, dass es nicht der Besitz ist, der unser Leben gut macht, sondern eine sichere Gesellschaft, der man vertrauen kann. Und in der es Liebe gibt, die nicht gekauft oder verkauft wird, sondern sich darin zeigt, dass man als einzigartig und besonders wahrgenommen wird – so beschreibt es zumindest Rosa in der vielleicht schönsten Passage des Stückes:
In Astoria macht niemand Geschäfte. In Astoria wird alles aus Liebe gemacht. Oder gar nicht. Sogar die anständigsten und reichsten Frauen heiraten dort aus Liebe. In Astoria kriegen die Frauen die Kinder nicht aus Unglück, sondern aus Glück. Alle Menschen wohnen in kleinen Häusern am Land. Jeder hat einen Garten mit Glaskugeln und Hängematten und Veilchenbeeten und Rehen und Hirschen. Und es gibt dort ein Ehegesetz, dass ein Mann nur dann eine Frau haben kann, wenn er ein Kosewort für sie erfindet, das noch keiner vorher gebraucht hat.
Die große Kunst von Soyfer ist, dass diese Träume nicht kitschig sind, sondern anrührend – und dass auch in den Träumen eine Realität gegenwärtig gehalten wird, in der eine Schwangerschaft ein Unglück ist.
So träumen sich die Figuren auch nur kurz in die Utopie – und prallen danach auf den Boden der Dystopie eines Astorias, das mit einer perfekten Propagandamaschine und leeren Versprechungen die Menschen betrügt und ausbeutet.
Sie müssen sich – Soyfer war Sozialist – diese Gesellschaft natürlich selbst bauen. Und auch wir stehen wieder vor der dringenden Aufforderung, unsere Welt zu ändern und besser zu machen. Dabei sind nicht nur die Träume von Paul und Rosa nicht die schlechteste Richtschnur, auch die Freundschaft von Pistoletti und Hupka könnte uns als Vorbild dienen. Hupka ist der blitzgescheite und bauernschlaue Vagabund, der sich mit seinen spontanen Einfällen aus brenzligen Situationen rettet. Ohne seinen moralischen Kompass Pistoletti und dessen Seelensympathie wird er aber zum Ideengeber für die skrupellosen Betrüger, die aus Astoria ein Spekulationsobjekt machen und mit den fiktiven Bodenschätzen des erfundenen Landes reich werden. Was daran für Pistoletti und dann für Hupka wirklich empörend ist, ist, dass sie diesen Reichtum nicht teilen wollen, eben kein Land für die Verfolgten kaufen, sondern nur weiter Geld scheffeln.
Als Hupka endlich die richtige Seite wiederfindet und vergeblich versucht, den Schwindel zu entlarven, hört ihm keiner zu, weil die Fake News um so vieles profitabler und verführerischer sind. Deswegen sind die Vagabunden auch am Ende wieder so weit wie am Anfang – nur ist Paul jetzt zu ihnen gestoßen.

Was bleibt als Lerneffekt? Zusammenhalten, an zweite Chancen glauben  (aber nicht  an   Fake   News) und niemanden verurteilen sollten, wenn er oder sie sich mal irrt.


Zum Autor

Jura Soyfer wurde am 8. Dezember 1912 als Sohn einer wohlhabenden jüdischen Industriellenfamilie in der ukrainischen Stadt Charkow geboren. Nach den Wirren des ersten Weltkriegs und der Oktoberrevolution floh die Familie Soyfer  1920 über Konstantinopel nach Wien. Jura Soyfer besuchte dort das Gymnasium und machte Abitur. In diese Zeit fällt auch seine Politisierung, die von der gesellschaftlichen und politischen Atmosphäre  Österreichs in den zwanziger und dreißiger Jahren wie auch durch weltpoltische Ereignisse geprägt ist. Beginnend mit dem “Verband  der  Sozialistischen  Mittelschüler” (VSM) über die Lektüre marxistischer Literatur und seine Mitgliedschaft in der sozialdemokratischen Arbeiterpartei 

schließt er sich nach dem Februaraufstand 1934 den Kommunisten an. In den nächsten Jahren kämpfte Jura Soyfer gegen den autoritären Staat und wurde auch von der Polizei überwacht. Er wurde mehrmals verhaftet und nutzte für seine Schriften gegen den Austrofaschismus ein Pseudonym. Er begann, für die Winer Kellertheater Stücke zu schreiben. Diese Kellertheater nutzten eine Besonderheit des östereichischen Theatergesetzes: Wenn eine Aufführungstätte weniger als 50 Sitze hatte - und die Kellertheater hatten komischerweise 49 Plätze, dann musste man Stücke nicht vorher bei der Zensurbehörde einreichen. Für diese Kellertheater schrieb Soyfer kurze Theaterstücke oder Szenen mit eingestreuten Songs, die revueartig Ähnlichkeiten zu Brecht oder auch der österreichischen Tradition von Nestroy und Raimund zeigten.
Mit dem Stück Astoria von 1937, das von der Zensur verboten wurde, zeigt Soyfer einen dystopischen Staat, der mit Lügen, Propaganda und Gewalt die Menschen von seiner Existenz überzeugt und - obwohl er kein Staatsgebiet hat - ausbeutet und für die Wahrheit blind macht. Hier sind die Bezüge zum faschistischen Nachbarstaat Deutschland nicht zu übersehen. 1937 wurde Jura Soyfer zu drei Monaten Haft verurteilt,  jedoch aufgrund einer Amnestie für politische Häftlinge kurz vor Ablauf der Haftstrafe entlassen. Nach einer Verhaftung aufgrund einer Verwechslung, die allerdings die österreichische Polizei auf den gleichfalls oppositionellen Soyfer aufmerksam macht, wird er bei dem Versuch, auf Skiern über die Schweizer Grenze zu fliehen, mit seinem Freund Hugo Ebner am 13.März 1938 festgenommen. Sie werden nach Dachau gebracht und im Herbst nach Buchenwald überstellt. Dort starb Soyfer am 16. Februar 1939 mit sechsundzwanzig Jahren an Typhus, nachdem er seine Entlassungspapiere und ein Visum in die USA erhalten hatte. Im Lagerbuch wurde sein Tod mit lakonischer Brutalität vermerkt: “Soyfer. Journalist. 16. Februar 1939. exit. Flecktyphus.”

Informationen: Jura Soyfer: Das Gesamtwerk, hg von Horst Janka, Wien 1980 sowie weitere Informationen aus: Langmann, Peter: Sozialismus und Literatur. Jura Soyfer. Studien zu einem österreichischen Schriftsteller der Zwischenkriegszeit, Frankfurt am Main, 1986. und www.wienerzeitung.at/nachrichten/reflexionen/vermessungen/505092-Ein-Kaempfer-in-Tat-und-Wort.amp.html


Rollen

Personen

Hupka, Landstreicher

Pistoletti, Landstreicher

Der Gendarm

Paul, ein junger Bursche »auf der Walz«

Hortensia, eine alte Prostituierte

Rosa, eine junge Prostituierte

Herr Jacob, Hortensias Verlobter

Gräfin Gwendolyn Buckelburg-Marasquino

Graf Luitpold Buckelburg-Marasquino

James, der Butler

Lord R.

Lady P.

G. B. Shaw

Ein Journalist

Eine Sekretärin

Der Lautsprecher

Der Lichtkassier

Der Mann mit der Sammelbüchse

Partei Nr. 23 687

Parteien im Passamt, Volk, Festgäste



  1. Universität Regensburg

Theatergruppe Babylon

Andreas Legner
Christine Kramel
Dr. Armin Wolff

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