Inhalt
„Zum großen Wurstel“ zeigt uns einen Ausschnitt aus einem Abend im Wiener Wurstelprater und ganz konkret die Aufführung eines Stückes auf der Marionettenbühne. Zu dem Ausschnitt gehört aber auch das ganze Drumherum, also die verschiedenen Zuschauenden - Kritiker, Bürgersfamilien und Handwerker - und ein kleiner Blick in die Unterhaltungsmaschinerie eines Vergnügungsparks mit dem Direktor, dem Dichter, dem Akkoerdeonspieler und allen anderen, die zu einem Vergnügungspark gehören.
Auf der Marionettenbühne wird ein Marionettenstück gespielt, in dem der letzte Tag des namenlosen Helden gezeigt wird - er ist ein typischer, junger, lediger Mann aus besseren Kreisen. Aufgrund einer Verwechslung hat er von dem Herzog von Lawin eine Aufforderung zum Duell erhalten, weil der ihm unterstellt, dass er eine Affaire mit seiner Frau hat.
Das stimmt zwar nicht, aber der Held versucht nun, sein Leben in Ordnung zu bringen. Seine Geliebte, das „süße Mädel“ Liesl soll gut versorgt als seine Ehefrau zurückbleiben und seine beiden Freunde möchte er als Sekundanten für sein Duell gewinnen.
Allerdings geht von Anfang an so einiges schief: Auch wenn der Held keine Affaire mit der Herzogin von Lawin hat, stellt sich heraus, dass das bei seinen beiden Freunden anders ist.
Und dann kommt auch noch die Herzogin vorbei und versucht, ihn zu verführen. Als er sich gerade mit Händen und Füßen wehrt, wird außerdem auch noch der Herzog angekündigt.
Die Herzogin flieht in sein Schlafzimmer und der Held muss eine lange und angeberische Demonstration der vielen Talente und großen Kraft des Herzogs über sich ergehen lassen. Eigentlich ist der Herzog aber gekommen, um sich zu entschuldigen, da er in der Zwischenzeit herausgefunden hat, dass er den Held fälschlicherweise verdächtigt hat. Der Vorwurf des Betrugs dreht sich auch sehr schnell um, da sich herausstellt, dass Liesl den Helden mit dem Herzog betrogen hat. Als der Held daraufhin versucht, den Herzog zu einen Duell zu fordern, lehnt der ab, da er sich nicht für ein Mädchen aus dem Volk duelliert.
Der Herzog geht ab - und der Held bleibt betrogen zurück, mit der ohnmächtigen Liesl zu seinen Füßen. Seine Racheidee ist, nun mit der Herzogin, die ja immer noch in seinem Schlafzimmer steckt, eine Affaire anzufangen. Die möchte aber nichts mehr von ihm wissen, da sie nur an dem Drama um Duelle und Tod und nicht an ihm interessiert war.
Als Liesl aus ihrer Ohnmacht erwacht, schlägt der Held ihr einen Selbstmordpakt vor - den Liesl aber empört ablehnt. In diese Auseinandersetzung platzen der Vater von Liesl und ihr Verlobter: Der Vater stammt aus dem kleinbürgerlichen Milieu und wirft dem Helden seine Unmoral und die Ausbeutung seiner Tochter vor. Währenddessen finden Liesl und ihr Verlobter wieder zueinander, die drei gehen glücklich ab und der Held beschließt nach einem Tag verschiedener Versuche zu sterben, einfach alleine Selbstmord zu begehen.
Der wirkliche Tod, der ihn besuchen kommt, macht ihm aber schnell klar, dass er eigenlich gar nicht sterben will - und vor allem ist er das Zeichen, dass der nur auf Sensation und Sentiment angelegte Plot des Stückes, in dem Handlungen nicht aus sich heraus entstehen, sondern nur immer wieder erklärt und erklärt werden, endgültig auseinanderklappt.
Denn die Zuschauer haben schon von Anfang an das Geschehen auf der Marionettenbühne fasziniert, gelassen und kritisch begleitet - und der Dichter und der Direktor haben ihre Kritik an dem Stück und an ihren gegenseitigen und sich wiedersprechenden Rettungsversuchen mitgespielt und gezeigt.
Und mit dem Auftreten des Todes passiert zweierlei: Zum einen wird es Teilen des Publikums jetzt doch zu bunt. Während manche Zuschauenden für ihr Geld einen schönen Schluss sehen wollen, zeigen andere aus dem Publikum ganz deutlich, dass ihnen das dann doch zu blöd ist.
Während der Direktor alles versucht, um diesen Aufruhr unter Kontrolle zu bekommen - und auch beinahe Erfolg hat, beschließen die Marionetten auf der Bühne, sich jetzt von der Herrschaft des Textes und den Ideen des Dichters zu befreien und nach ihren eigenen Wünschen weiterzuspielen.
Soweit kommt es aber nicht - denn jetzt tritt ein Unbekannter auf, der ihnen die Fäden durchschneidet - und in die Freude des Dichters hinein demonstriert, wer auf dieser Bühne noch alles an Fäden hängt ...
Interpretation
Es gibt Sachen, die sind so schlecht, dass sie schon wieder gut sind - kennen Sie diese Reaktion gegenüber Kitsch, Kätzchenbildern und den Plot-Twists von Seifenopern und Trash-Movies?
Dass dieser fröhliche und konsequente Verzicht auf innere Logik, Spannungsaufbau und Motivation von Handlungen seine eigene Faszination hat, das zeigt unter anderem, dass es Hitlisten mit den schlechtesten Filmen aller Zeiten gibt und Fans, die diese Filmen - wahrscheinlich nicht immer rein ironisch? - zu genießen wissen.
Und das Stück auf der Marionettenbühne hat durchaus das Zeug dazu, in den illustren Reigen der schlechtesten Stücke aller Zeiten aufgenommen zu werden: Wir haben einen geschwätzigen Helden, der durch Duelle und Selbstmordpakte versucht, würdevoll zu sterben - und sich dabei auch ziemlich gut gefällt - und wir haben einen völlig misslungenen Tag, während dessen dauernd irgendwelche Leute zu Besuch kommen, um ihn zu verführen, sich zu entschuldigen und ihn anzuklagen.
Seine Geliebte hält seine Idee von dem gemeinsamen Liebestod für nicht so toll - und als er dem Tod dann leibhaftig begegnet, zeigt sich, dass unter der zuerst beeindruckenden Maske doch der Hanswurst steckt - und wir als Menschen zur Lächerlichkeit geboren sind.
Und das Stück auf der Marionettenbühne ist auch schamlos und vergnügt - einfach schlecht. In jeder „Entwicklung“ der Handlung stereotyp, ein Kondensat der Sensationsdramatik der Zeit - und damit alle es auf jeden Fall verstehen, hat der Dichter des Stückes (der auf der Zuschauerbühne nervös der Premiere seines Meisterwerks beiwohnt) auch noch eine Figur in das Stück hineingeschrieben, die jede Handlung ein weiteres Mal kommentiert und erklärt. Nur zur Sicherheit, falls es irgendjemandem noch nicht klar war...
Fasziniert hat uns aber nicht diese Qualität des Marionettenstücks - auch wenn wir zugeben müssen, dass manche der Reime uns nach neun Monaten immer noch zum Lachen bringen, fasziniert hat uns die Sprache und Kunst von Arthur Schnitzler, der in diesem Stück Sensationsstücke vom Fließband persifliert, die Kritikertypen, denen er als Dramatiker begegnet, ein bisschen lächerlich macht, seine eigene Existenz als Dichter ironisch beleuchtet, die Theatermaschinerie zeigt, wie sie knarrt und stottert - und das alles in einer furiosen Stunde, in der es zwischen den Ebenen hin- und hergeht, dass es einem schwindlig wird. Es ist ein großer Theaterspaß: Wenn wir dem Theaterdirektor und Leiter einer Marionettenbühne als Praktiker dabei zusehen, wie er Sensationsmomente in das Stück zu schmuggeln versucht, um das Publikum bei Laune zu halten, während der Dichter bei der Uraufführung seines Stückes vor Nervosität schier vergeht - und hin- und hergerissen wird zwischen dem Drang, jede einzelne seiner Zeilen zu verteidigen und das zu streichen, was das Publikum ganz klar nicht mag oder nicht versteht.
Das ist die eine Sache: Ein Stück mit Zuschauenden und Backstage als Ganzes zu spielen, mit Kommentarebenen und Theaterskandal, macht - das geben wir offen zu - einfach unglaublichen Spaß. Vor allem dann, wenn Zuschauer- und Marionetteneben zusammen dann wieder kunstvoll verflochten und komponiert eine durchaus nicht mehr triviale Handlung ergeben.
Aber auch das ist noch zu kurz gegriffen: Denn in dieser Burleske werden wird auch mit ernsteren Fragen konfroniert. Auf der Marionettenbühne spielen Menschen Marionetten - angehängt an Schnüre und so ein Symbol für Unfreiheit. Denn wenn wir Marionetten genau betrachten, dann ist ihnen eben nicht nur wie Schauspielern der Text vor-geschrieben, sondern auch jede Bewegung wird direkt von außen, vom Puppenspieler, vorgegeben. Wie leicht ist es, sich selbst freier und selbstbestimmter als diese Puppen zu fühlen, die eigenen Motive und Gefühle als individuell und differenziert zu sehen und nicht als so „hölzern“ wie das, was unsere Puppen da treiben.
Ihr kurzer Moment der Rebellion wird rüde beendet, indem ihre Fäden durchgeschnitten werden - und der Unbekannte lässt uns alle mit der Frage zurück, wie frei wir eigentlich wirklich sind, an welchen Fäden wir hängen und welchen Zwängen wir gehorchen müssen oder auch nur aus Bequemlichkeit gehorchen.
Wir müssen noch eine Sache zugeben: Schnitzler hat ein „Insiderstück“ geschrieben - und deswegen mussten wir ihn mit auf die Bühne stellen, damit er uns - über hundert Jahre später - erklären kann, was da alles passiert. An der Figur des Schnitzler ist nicht der Dichter schuld ...
Zum Autor
Arthur Schnitzler wurde 15. 5. 1862 in Wien geboren und starb dort am 21. 10. 1931. Zwischen 1879-1884 studierte er an der Universität Wien Medizin und promovierte 1885 in Medizin. Diese Studienzeit wurde unterbrochen durch seinen Militärdienst, den er 1882/83 als Einjährig-Freiwilliger am Garnisonsspital in Wien absolvierte.
Um 1885 kam es auch zu der Bekanntschaft mit Sigmund Freud, die beiden teilten das Interesse für das Un- und Unterbewusste. Während Schnitzler an verschiedenen Wiener Krankenhäusern als Assistentarzt arbeitete, intensivierte sich sein Interesse für das Schriftstellertum. 1888 veröffentlichte er die Einakter um „Anatol“ und ab 1890 gehörte er dem Kreis der „Wiener Moderne“ an. Er ist einer der bedeutendsten Kritiker der österreichisch-ungarischen „K und K“-Gesellschaft und ihrer Entwicklung um die Jahrhundertwende.
1893 gab er „seine Stellung an der Klinik auf, führte zwar eine Privatpraxis, wandte sich aber vorrangig seiner (zunächst auch noch fach-)schriftsteller. Tätigkeit zu. Die wiss[enschaftlich] geschulte Sichtweise des Arztes beeinflußte jedoch auch weiterhin sein literar[isches] Schaffen, häufig wird die Figur des Arztes zum Protagonisten“. www.biographien.ac.at/oebl/oebl_S/Schnitzler_Arthur_1862_1931.xml;
1897 veröffentlichte er „Der Reigen“, einen Zyklus von zehn dramatischen Dialogen - der allerdings von der Zensur verboten wird und erst 24 Jahre später uraufgeführt. Bis zu seinem Tod schreibt er zahlreiche Dramen, die teils sozialkritische, teils psychologische Themen behandeln. Er gehörte zu den meistgespielten Dramatikern auf deutschen Bühnen.
In der Novelle „Leutnant Gustl“ (1901) tritt der innere Monolog als Ausdruckform auf, Schnitzler wird wegen „der Angriffe auf den Ehrenkodex des österreichischen Militärs“ (https://www.dhm.de/lemo/biografie/arthur-schnitzler) in diesem Text der Rang eines Re serveoffiziers aberkannt. 1903 heiratete er Olga Gussmann - vor 1914 war er mit mehr als 200 Aufführungen am Burgtheater der meistgespielte Autor.
Während des Ersten Weltkriegs ist er jedoch einer der wenigen österreichisch-ungarischen Intellektuellen, die schon zu Beginn des Ersten Weltkriegs die allgemeine Kriegsbegeisterung nicht teilen. Die Popularität seiner Stücke geht deutlich zurück. (https://www.dhm.de/lemo/biografie/arthur-schnitzler)
Nach dem Ersten Weltkrieg und der Scheidung von seiner Frau (1921) ist Schnitzlers Leben in den letzten zehn Jahren von einer zunehmenden Isolation aufgrund von psychischen und physischen Problemen geprägt. Auch Ehrungen wie die erste Präsidentschaft des österreichischen PEN-Clubs (1923) und die Verleihung des Burgtheaterrings (1926) konnten diese Isolierung nicht durchbrechen.
„Nach seinem Tod wurde die Wirkung [Schnitzlers], die weit über Europa hinausging, durch die polit[ischen] Ereignisse der 30er Jahre und die Verbrennung seiner Werke durch die Nationalsozialisten gewaltsam unterbrochen; erst seit den 60er Jahren wächst die Wertschätzung für seine krit[ische] Beobachtungskunst, wird [Schnitzlers zunehmend vom Klischeebild des „Dichters der versunkenen Welt“, des Frivol-Erot[ischen] befreit und seine zutiefst eth[ische] Grundhaltung gesehen.“https://www.biographien.ac.at/oebl/oebl_S/Schnitzler_Arthur_1862_1931.xml?frames=yes
„In den 1970er Jahren wurden die sozialkritischen Aspekte seines Werks stärker wahrgenommen; nun entdeckte man auch [Schnitzlers] scharfen Blick für die asymmetrischen Geschlechterverhältnisse seiner Zeit, womit seine „Frauennovellen“ in den Vordergrund rückten; die Meisterschaft der späten Prosa wurde ersichtlich.[...] Im Zeichen der Postmoderne bewertete man auch [Schnitzlers] Thematik von Traum, Schein und Spiel, von Geschichte und Zufall neu. Auf komplexe und vieldeutige Weise reflektiert [Schnitzler] die Sprache als psychisches Zeichensystem, als Kodifizierung von Erinnerung, als versagendes Kommunikations- wie als wirksames Machtmittel. Psychologische und ästhetische Dichte hat seinem Werk weltweite Geltung verschafft.“ (https://www.deutsche-biographie.de/sfz22625.html#ndbcontent)
Unter Verwendung von:
www.biographien.ac.at/oebl/oebl_S/Schnitzler_Arthur_1862_1931.xml
www.dhm.de/lemo/biografie/arthur-schnitzler
www.deutsche-biographie.de/sfz22625.html
Informationen zum Stück und die gestrichene Stelle des Raisoneurs von
www.schnitzler-edition.net/emendtext/10118
Rollen
Zum großen Wurstel
Burleske in einem Akt
Personen
Der Direktor
Der Dichter
Der Wohlwollende
Der Bissige
Der Naive
Ein Bürger
Seine Frau
Zweiter Bürger
Seine beiden Töchter
Erster Skandalmacher
Zweiter Skandalmacher
Der Graf von Charolais
Der Meister
Ein Ringkämpfer
Ein Herr im Parkett
Ein Unbekannter im blauen Mantel
Bürger, Soldaten, Kellner, Kinder etc.
Personen des Marionetten-Theaters
Der Herzog von Lawin
Die Herzogin von Lawin
Der Held dieses Stückes
Der traurige Freund
Der heitere Freund
Liesl
Der düstere Kanzlist, ihr Vater
Ein Vetter Brackenburgs, ihr Bräutigam
Der Räsoneur
Ein stummer Herr
Ein zweiter stummer Herr
Ein totes Mädchen
Ein Diener
Der Tod
