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Walter Scheidel (Stanford University) im Graduiertenkolleg

Videokonferenz zum Thema: "Wie ermöglichte der Untergang des römischen Reiches die Modernisierung der Welt?"

Eigentlich wäre Walter Scheidel anlässlich der GRK-Kolloquiumsveranstaltung am 03.06.2020 aus Palo Alto nach Regensburg gekommen; in tempore pestilentiae nun wurde sein Vortrag in den virtuellen Raum verlegt. Über 50 Zuhörende aus dem Kolleg, dem Forum Mittelalter und weiteren mit dem Regensburger Graduiertenkolleg vernetzten Forschungsverbünden nahmen diese Gelegenheit war, dem Referat des Stanford-Historikers mit dem Titel "Wie ermöglichte der Untergang des römischen Reiches die Modernisierung der Welt?" beizuwohnen.

Nach einem Studium der Alten Geschichte und der Numismatik an der Universität Wien und post-doc-Stationen in Graz, Ann Arbor, Cambridge und Chicago ist Walter Scheidel heute Professor für Klassische Altertumswissenschaft und Geschichte sowie Dickason Professor in the Humanities und Catherine R. Kennedy and Daniel L. Grossman Fellow in Human Biology an der Universität Stanford in Kalifornien.

Nachdem seine Schriften als Althistoriker hauptsächlich mit wirtschaftshistorischen, demographischen und biologisch-anthropometrischen Themen wie Grundpacht und Lohnarbeit in der Landwirtschaft des römischen Italien" (Diss., Frankfurt 1994) oder Death on the Nile: Disease and the Demography of Roman Egypt (Leiden 2001) fokussierten, hat sich sein Untersuchungsrahmen in den jüngst vergangenen Jahren auf das Feld der Globalgeschichte und auf historisch fassbare Parameter politischer Ökonomie ausgedehnt (etwa in: The Dynamics of Ancient Empires: State Power from Assyria to Byzantium, Oxford 2009 oder als Mitherausgeber von Fiscal Regimes and the Political Economy of Premodern States, Cambridge 2015 und On Human Bondage: After Slavery and Social Death, Malden 2017).

Zu einer breiten Beachtung von Scheidels Positionen sowohl im geschichtswissenschaftlichen Umfeld als auch im Licht der Öffentlichkeit führte spätestens seine 2017 veröffentlichte Monographie The Great Leveler: Violence and the History of Inequality from the Stone Age to the Twenty-First Century, Princeton 2017 (in deutschsprachiger Übersetzung 2018 erschienen als Nach dem Krieg sind alle gleich, Darmstadt 2018). Ausgehend von qualitativen Befunden zur Entwicklung des materiellen Lebensstandards in der longue durée ist seine These, dass es im Wesentlichen Kriege, revolutionäre Umstürze, generelle politische Instabilität und Seuchen gewesen seien, deren Folgen - in Bezug auf Kapitalbasis, obrigkeitliche Eingriffe und soziale Dynamiken - zu einer nivellierteren Einkommens- und Vermögensverteilung innerhalb von Gesellschaften führten. Diese Ambivalenz in Scheidels Befunden – führen also katastrophale Ereignisse mittelfristig zu einer "gerechteren" Distribution von Wohlstand? – hat fachhistorische und allgemeingesellschaftliche Diskurse über Ungleichheit angestoßen und wirkt im Frühjahr 2020 umso tagesaktueller.

Seine neueste Publikation, deren Kernthesen Walter Scheidel in seinem Vortrag am 03.06. referierte, hat konkret die These vom Untergang des Römischen Reiches als entscheidender Vorbedingung für modernes Wachstum, die Industrielle Revolution und weltweite westliche Dominanz zum Thema. Im Vortrag stellte Walter Scheidel die sich in den euro-mediterranen Metropolen der Vormoderne herausbildenden neuen Vergesellschaftungs- und Wirtschaftsformen, Herrschaftstechniken und kulturellen Codes in einen breiteren, globalhistorischen Kontext vor dem Licht der Frage nach den Mechanismen hinter dem „Entkommen aus der Armutsfalle“.

Im Einführungskapitel von Escape from Rome: The Failure of Empire and the Road to Prosperity, Princeton 2019 heißt es dazu: This escape from sickness, ignorance, oppression, and want, which remains very much a work in progress in large parts of the world, was not made up of slow, gradual, and linear improvements. For the most part, it represented a radical break from the practices and life experiences of the past, a break that changed the world in the course of just a few generations (p.1).
Die Hintergründe dieses Musters veranschaulichte der Vergleich zwischen dem Raum des früheren Römischen Reiches (wo sich seither kein vergleichbares Imperium langfristig etablieren konnte) und China (wo sich eine historische Kontinuität dieser Herrschaftsform offenbart), wobei metro- und perizentrische Parameter in den Blick genommen wurden wie etwa Sprache, politische Organisationsformen, Legitimationsnarrative, Religion oder naturräumliche Gegebenheiten. Dabei gelangte Scheidel zu der Conclusio, dass die klassischen wirtschaftshistorischen Erklärungen für die Great Divergence – i.e. eine effektive Institutionenlandschaft, Welthandel, Kolonialismus, Innovationsoffenheit und ein bestimmtes Wertegerüst (vgl. Deirdre McCloskey 2010, Bourgeois Dignity) – allesamt von der Fragmentiertheit und Kompetitivität des europäisch-neuzeitlichen (Klein-)Staatensystems profitiert haben und quasi durch die Abwesenheit eines monolithischen Zentralimperiums erklärt werden können.

Durch die Vielzahl an Anknüpfungspunkten zu Forschungsprojekten im Rahmen des DFG-GRK 2337 Metropolität in der Vormoderne entfaltete sich hieran eine streitbare, konstruktive und tiefgründige Diskussion, deren Impulse nicht zuletzt in konkrete Arbeiten einfließen können. Gewinnbringend war es im Besonderen, methodologische und forschungspraktische Fragen mit dem Gastreferenten aus Stanford besprechen zu können. Auch zu sehen, dass historische Stimmen i.S. eines public intellectual durchaus im gesellschaftlichen Diskurs wahrgenommen werden, wie Scheidels jüngste Artikel etwa in der New York Times oder in Foreign Affairs zeigen, war inspirierend. Das GRK dankt Walter Scheidel für den instruktiven Nachmittag und die Zeit, die er sich für die Nachwuchsforscher/innen an der UR genommen hat!


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Prof. Dr. Jörg Oberste

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